Nicht nur, dass Stephen King, der Erzählmeister des Suspense, der deutschen Netflix-Serie „Kleo“ den Ritterschlag erteilte, indem er sie als suspenseful and also very funny öffentlich lobte. Und nicht nur, dass diese alles andere als geräusch- und blutarme Geschichte über eine Profikillerin aus good old Germany in 45 Ländern in die Top Ten des Streamers einging. Jetzt könnte „Kleo“ am 15. Januar in Los Angeles auch noch als „Beste fremdsprachige Serie“ den Critics Choice Award gewinnen. Es wäre ein weiteres Ausrufezeichen auch in Viviane Andereggens Karriere, die zusammen mit Jano Ben Chaabane bei Kings Liebling Regie geführt hat.
Und es wäre natürlich ein schönes Sichtbarmachen einer erfreulichen Entwicklung: Ganz so selten sind Frauen in dieser Schüsselrolle hinter der Kamera nicht mehr. Ihr Anteil hat sich nach neuster Studienlage in den vergangenen zehn Jahren erhöht. Eine neue Generation von Regisseurinnen findet ihren Platz. Alles gut, oder?
Sichtbar wird am Donnerstag dieser Woche erstmal ein blonder Schopf unter grau-blauer Pudelmütze. Viviane Andereggen kommt angehetzt vom Termin mit einem Produzenten, die letzte Dattel vom Mittagssnack noch herunterkauend. Scheint grad zu laufen bei ihr.
Jó napot, Andereggen asszony!
Mit ein paar Brocken Ungarisch hat man sie schnell auf seiner Seite. Ein Strahlen im Gesicht. Die Tochter einer Ungarin und eines Schweizers wuchs in Zürich und Budapest auf. In Berlin lebt sie, seit sie ihr Regie-Studium an der Hamburg Media School mit Lehrmeistern wie Wim Wenders beendet hat. Ohhh örülök, beszélsz magyarul, entgegnet sie freudig. Ähem, nem, tut mir leid, wir müssen hier auf Deutsch weitermachen.
Und wir müssen unbedingt darüber reden, wie sie, die Schulabbrecherin, die als Punk Häuser besetzte, doch noch die Kurve kriegte in ein bürgerliches Leben und einen Beruf, der Jubelstudien zum Trotz überdurchschnittlich oft von Männern ausgeübt wird.
Der „Jüdischen Allgemeinen“ hat Viviane Andereggen in dieser Woche erzählt, in welche ganz besondere Erzähl-Schule sie als Kind gegangen ist: Es waren die Gute-Nacht-Geschichten ihrer jüdischen Großmutter in Budapest. Geschichten vom Krieg, kindgerecht verändert. Heldengeschichten. Erst nach deren Tod wurde der Enkelin bewusst: Es war Großmutters Art des Verarbeitens. Es war ihr Weg, um aus dem Opfer-Status herauszukommen und sich wieder als handelndes Subjekt zu verstehen.
So was prägt. So was sensibilisiert. Und es drängt Viviane Andereggen, in deren Regieleben schon ein beachtlicher Preisregen heruntergeprasselt ist, Position zu beziehen.
Als sie 2019, da war sie 34, den Hamburger Krimipreis zu Ehren von Jürgen Roland, dem Schöpfer von „Stahlnetz“ und „Großstadtrevier“, erhalten sollte, war sie zunächst stolz und glücklich – bis sie recherchierte und auf Rolands SS-Vergangenheit stieß. Diesen Preis gerade für „Rufmord“ zu bekommen, den ZDF-Film, der ihr zum Durchbruch in Deutschland verhalf und der Moral und Schuld zum Thema hat, das sei ein Widerspruch, der sich nicht auflösen lasse, sagte die Preisträgerin damals in ihrer Dankesrede. Einen für sich doch irgendwie lösbaren Weg fand sie, indem sie das Preisgeld über 10.000 Euro an eine KZ-Gedenkstätte spendete.
Das ist umso erwähnenswerter, weil es im Gewerk Regie, finanziell betrachtet, noch immer ungerecht zugeht. Den Equal Pay Gap, es gibt ihn, „leider“, bestätigt Viviane Andereggen, „und es ist ein Skandal“. Wenn sie Projekte auswähle, sei es ein Kinofilm wie „Die drei Ausrufezeichen“ oder eine Serie wie eben „Kleo“, dann achte sie auf das Drehbuch, ob Themen und Figuren sie berühren, und auf die Menschen, mit denen sie zusammenarbeite, aber nicht zuletzt auch auf die Rahmenbedingungen. Erfrischend ehrlich gibt sie zu, dass sie es sich nicht immer leisten könne, wählerisch zu sein:
„Ich muss von meiner Arbeit, die auch Leidenschaft ist, ja leben können. Aber was nützt mir Leidenschaft, wenn ich am Ende Existenzsorgen habe? Auf mich trifft der Mythos der armen Künstlerin, die wegen ihrer schwierigen Verhältnisse mehr Antrieb für ihre Arbeit hat, nicht zu.“
Bei ihr sind die „Verhältnisse“, szerencsére!, gerade gut und immer besser. Obwohl auch sie sich noch nicht lang mit dem Vorurteil konfrontiert sah: Am Set braucht es eine starke Hand und Durchhaltevermögen. 44 Drehtage am Stück, das könnten Regisseurinnen unmöglich schaffen.
Doch! Viviane Andereggen hat das geschafft. Ihrer (Vorsicht, Sexismus!) zarten Erscheinung zum Trotz zog sie im Winter 2019 den Dreh von zwei „Tatort“-Folgen auf einen Schlag durch. Mit „Züri brännt“ und „Schoggiläbe“ gab sie nicht nur ihr Debüt im Hochamt am heiligen Krimisonntag. Sie hatte auch das Privileg, mit Isabelle Grandjean und Tessa Ott ein neues, rein weibliches Ermittlerteam einzuführen und die Basis für folgende Regiearbeiten zu legen. Von Null auf etwas Neues entstehen zu lassen und dabei auch ins Risiko zu gehen, das ist ganz nach Andereggens Geschmack. Und man traut es ihr offensichtlich auch zu.
Warum ihr und so vielen anderen Regisseurinnen nicht, kann sie sich nicht recht erklären. Vielleicht, weil sie sich sehr genau aussuche, mit wem sie arbeite? Sie meide Menschen in der Arbeit, die Frauen in Führungspositionen nicht respektieren. Oder ist es vielleicht eine Frage des Charakters?
Es sei ganz wichtig, einen Beruf zu finden, der zum eigenen Charakter passt, glaubt Andereggen auf jeden Fall. Welcher Charakter bei ihr zum Vorschein kommt, wenn sie arbeitet? Sie lacht: „Die schlechteste Version von mir selber.“ So habe es jedenfalls ein Regie-Kollege einmal von sich gesagt. „Das fand ich sehr sympathisch.“
Sinnlose Autorität unangenehm
Nun kann man sich Viviane Andereggen beim besten Willen nicht als Despotin am Set vorstellen, also als Vertreterin einer Zunft, deren Bild männliche Berserker prägten, gerne mit dem beschönigenden Adjektiv „charakterstark“ versehen. Nein!, wirklich nicht, damit habe sie nichts zu tun, „ich habe andere schlechte Eigenschaften“, sagt Andereggen. Starre Hierarchien und sinnlose Autorität finde sie „sehr unangenehm“. Respekt und Vertrauen seien ihr viel wichtiger, unabhängig davon, welchen Beruf die Person am Set macht. „Autoritäres Gehabe finde ich veraltet.“
Nichtsdestotrotz, irgendjemand muss beim Drehen in letzter Instanz Entscheidungen treffen. Und seit das Prinzip „Showrunner“ aus Amerika herüberschwappt, müssten, von außen betrachtet, die Konflikte zwischen Buch und Regie zunehmen. Autorinnen und Autoren verlangen nach mehr Mitsprache; die hiesigen haben dazu einen Forderungskatalog aufgestellt, der unter dem Namen „Kontrakt 18“ Diskussionen auslöste, weil er Zuständigkeiten in Frage stellt, ja Fronten verhärtet.
Die Regisseurin zeigt Verständnis für die andere Seite, wenn sie sagt: „Das Buch ist der Ursprung von allem.“ Sie wisse, wie viele Verletzungen und Demütigung Drehbuchautor*innen erlitten, wie viel Misstrauen ihnen entgegengebracht würde. „Es ist aber aus meiner Sicht nicht hilfreich, gegen die Regie zu schießen und ihr pauschal zu unterstellen, sie untergrabe die Arbeit der Autor*innen.“ Sich als Team zu verstehen und nicht als Feinde, ein gemeinsamer Weg der Kreativen, dafür steht sie ein.
Dass jemand wie Hanno Hackfort, der dritte Mann im Autorenkollektiv „HaRiBo“, bei „Kleo“ die Showrunner-Rolle ausübte, hat Andereggen als „Bereicherung“ in Erinnerung: „Mit Hanno war es eine gemeinsame Arbeit. Es ging um Vertrauen, Freude und einen offenen, professionellen Austausch.“ Bei größeren Projekten wie einer Serie sei es durchaus sinnvoll, dass jemand für den übergeordneten Rahmen da ist. Sie erwarte allerdings, „dass Drehbuchautoren, die als Showrunner agieren, das Wissen und Verständnis haben, wie ein Dreh tatsächlich funktioniert“. In Amerika gehöre das zur Ausbildung. „Bei uns fängt das erst an.“
Die zweite Staffel von „Kleo“ ist übrigens in Arbeit. Kleiner Spoiler: Autos fliegen und landen unsanft. Viviane Andereggen und Jano Ben Chaabane wirken diesmal nicht mit. Ob sie nicht wollten oder gar nicht gefragt wurden, bleibt unklar, aber ein Austausch in der Regie ist nicht ungewöhnlich. Für Andereggen bietet sich jetzt die Chance, mit einem weltweiten Erfolg im Gepäck weiterzuziehen. Und nachdem sich sogar Stephen King als Fan geoutet hat, müsste das Tor zu noch Größerem für sie weit offenstehen, oder?
Nach „Kleo“ werde es jetzt einfacher für sie, Geschichten umzusetzen, die sie wirklich interessieren. Andererseits glaubt sie, dass es mit der Karriere „hoch und runter“ geht. Sie wolle sich deshalb nicht allzu sehr von Erfolg und Misserfolg beeinflussen lassen, „sondern wie eine Kletterin stetig und im eigenen Tempo den für mich richtigen Weg suchen“.
Wie schnell es vorangeht, hat sie allein freilich nicht in der Hand. Beim Film braucht es immer eine Weile, bis es dann wirklich zum Drehen kommt. Gleich an mehreren Projekten ist sie in diesem Winter parallel dran, darunter eine Culture-Clash-Komödie. Am Buch schreibt sie mit, obwohl sie eigentlich findet, dass sie fürs Schreiben, „viel zu unruhig“ ist. Aber weil sie, bedingt durch ihre eigene Biografie, jüdische Stoffe interessieren, weil der Antisemitismus einfach nicht abnimmt und weil es hier in Deutschland noch ein Nischenthema ist, Geschichten über jüdisches Leben im Hier und Heute zu erzählen – deshalb setzt sie sich selber hin und kreiert eigene Inhalte, „um diese Perspektive in die deutsche Filmlandschaft reinzugeben“.
Apropos Perspektive: Fliegt sie im Januar über den Atlantik? Geht sie auf Tuchfühlung mit Hollywood, wenn „Kleo“ mit „1899“ (Good luck, as well!), „Borgen“ oder „Garcia!“ um den wichtigen Kritikerpreis zittert? Wie so oft weicht Viviane Andereggen lachend aus: „Ich werde gleich mal mit meinem Produzenten von Zeitsprung sprechen.“
Wir übersetzen das mal: Ein Ticket nach L.A. fände Viviane Andereggen sehr schön.