„Framing“, „Stimmungsmache“, „Geisterfahrt“, „Manipulation wie in der ,Aktuellen Kamera‘“, „gefälschte Bilder, die schlimmer sind als die Anschaffung von Massagesitzen einer Intendantin“ – wer da so am Montag vor einer Woche tobte (hier, hier oder hier), waren CDU-Granden wie Armin Laschet und Hermann Gröhe. Erbost hatte sie ein tags zuvor im Ersten gesendeter „Bericht aus Berlin“, in dem Friedrich Merz nicht gut wegkam. Der Beitrag über den Streit um das Bürgergeld zeigte den Oppositionsführer im Bundestag an falscher Stelle feixend und im Zwischenschnitt als Pilot im Privatflugzeug, als ihm Britta Hasselmann von den Grünen gerade soziale Kälte vorwirft.
„Im nächsten BaB Erklärung und Entschuldigung“, forderte Ruprecht Polenz. Die folgte dann tatsächlich. Nach Twitter auch on Air, ein seltener Fernsehmoment. „Uns ist ein Fehler unterlaufen“, sagte Matthias Deiß am Schluss der Sendung, „wir entschuldigen uns hierfür."
Shit happens. Shitstorms auch.
Aber wie konnte dieser „Fehler“ passieren? Und warum ausgerechnet in einer Sendung, die Matthias Deiß moderiert und mit verantwortet? Wo es doch sein Anspruch ist, „alle Seiten zu zeigen, alle gleich fair zu behandeln“?
Und wer ist überhaupt dieser Matthias Deiß?
Er ist – Achtung, Selbstbeschreibung! – seit „jeher Journalist mit Haut und (ohne) Haar“ (und der Selbstironie offenbar zugeneigt). Seit Mai 2021 leitet er mit Tina Hassel das ARD-Hauptstadtstudio. Mit ihr wechselt er sich jede zweite Woche in der Moderation des „Bericht aus Berlin“ ab. Live-Berichte in der „Tagesschau“ und Kommentare in den „Tagesthemen“ gehören ebenso zu seinem Job wie die „Sommerinterviews“ mit Politikern im Ersten.
Termine halte er sonst immer ein. Pünktlichkeit sei ihm sehr wichtig. Wer für die „Tagesschau“ arbeite, müsse auf die Minute pünktlich sein, denn: „Die ,Tagesschau‘ beginnt um Punkt acht, nicht fünf Sekunden danach, nicht fünf Sekunden davor.“ Das habe er so sehr verinnerlich, dass er auch zu privaten Terminen überpünktlich erscheine, „was nicht immer allen Leuten gefällt“.
Aber, es ist halt so, und das werden sicher auch seine Freunde und Familie verstehen: Es kann immer was dazwischenkommen. Breaking-News sind nie planbar. Schnelles Reagieren und Adrenalin gehören in Matthias Deiß‘ Metier dazu. Und so stieg sein Hormonspiegel an, als an einem Montag im Oktober das Bundespräsidialamt anrief, es geht gleich los.
Frank-Walter Steinmeier sollte nach Kiew reisen, was ein paar Wochen zuvor wegen Sicherheitsbedenken abgeblasen worden war. Als einzige Pressevertreter durften mit in den Zug: ein Reporter von dpa und Matthias Deiß. Letzterer nicht, wie er betont, weil er besonders gemocht werde, sondern weil er „für die größte Nachrichtensendung des Landes arbeite und eine Riesenöffentlichkeit herstelle“. An „im Schnitt mehr als elf Millionen Zuschauern“ (wenn man alle Sender, die die „Tagesschau“ zeigen, zusammenrechnet) gehe kein Politiker vorbei. Also auch der Bundespräsident nicht.
Am Zielort nahm ARD-Korrespondent Vassili Golod den hohen Besuch aus dem Berliner Büro in Empfang, was bei solchen Anlässen immer zu der Frage führt: Was bringt es dem Zuschauer an Mehrwert, wenn sich Hauptstadtjournalisten quasi auf „embedded journalism“-Tour begeben, wo Kollegen lokal schon länger und ortskenntnisreicher berichten – außer dass es das Vorurteil verstärkt, „die da oben“ steckten unter einer Decke?
Zusammenarbeit mit dem Korrespondenten vor Ort für ein „umfassenderes, multiperspektivisches Bild“ und „zum Wohle der Sendung und unseres Publikums“, das sei seine Grundhaltung, sagt Matthias Deiß. Alles, was der Bundespräsident ihm im Zug gesagt habe, habe er mit Golod abgeglichen und dann die deutsche Perspektive in die Berichte mit eingebracht. Das schon oft diskutierte Nähe-Distanz-Problem zwischen Hauptstadtjournalisten und Spitzenpolitikern scheint ihn dennoch sehr zu beschäftigen, weshalb er sich ausführlich erklärt.
Nur weil er mit dem Staatsoberhaupt im Zug sitze, heiße das nicht, dass er mit ihm ein Team bilde. „Das ist keine Klassenfahrt mit Freunden. Ganz im Gegenteil.“ Auf solchen Reisen habe man die Gelegenheit, die Arbeit des Bundespräsidenten oder auch die des Bundeskanzlers (mit dem Deiß zur #COP27 in Sharm El-Sheikh reiste) „in ihrer Gesamtheit einzuschätzen“. Und man könne „die eine und andere kritische Frage stellen“, was einfacher sei als auf einer Pressekonferenz in Berlin. „Wir brauchen stabile Kontakte zu Politikern, um Informationen zu bekommen“, endet Deiß, „das heißt aber nicht, dass man sich mit ihnen gemein macht oder gar instrumentalisieren lässt.“
Und das gilt in Krisenzeiten vielleicht umso mehr. Seit Deiß nach Stationen beim rbb ins ARD-Hauptstadtstudio zurückgekehrt ist (was die frühere rbb-Intendantin Patricia Schlesinger nach eigener Aussage durchgeboxt haben will), bestimmen nicht endende Großlagen die Politik und damit auch seine Arbeit. Erst Bundestagswahlkampf und Bundestagswahl, dann Sondierung, Koalitionsverhandlungen, Regierungsbildung, immer noch Corona und Ukraine-Krieg mit all seinen Folgen. Also, sagt Deiß, es gebe keinen Ort, der für politische Journalisten im Moment spannender sei. „Es ist genau richtig, hier zu sein. Aber es hält uns auch alle gut auf Trab.“
Selbst schuld. Aufregend wollte er es ja haben.
2003 schloss er seine journalistische Ausbildung an der DJS in München ab und konnte schon zuvor auf TV-Erfahrung beim NDR quasi als „Reporter-Pirat“ verweisen. Doch zurück an die Elbe wollte er, der 1978 in Hamburg geboren worden war, nicht. Er wollte auch nicht wie die meisten anderen Absolventen zum Bayerischen Rundfunk oder zur „Süddeutschen Zeitung“. Für ihn war klar: Dein Herz brennt für politischen Journalismus. Du musst dorthin, wo die Musik spielt.
2017 folgte der Karrieresprung zum „Kontraste“-Chef, verbunden mit einer großen Herausforderung: Das Polit-Magazin des rbb war in die Jahre gekommen und dümpelte am Quotenboden. Deiß setzte an, neues Studio, neues Design, beließ es aber nicht bei Kosmetik. Er verpasste „Kontraste“ digitale Präsenz und stellte die Redaktion als Team neu auf, „um an einem neuen Spirit zu arbeiten“, wie er sagt. Heißt: „journalistisch unberechenbarer zu werden, dort zu recherchieren, wo es weh tut, und sich dabei alle politischen Parteien gleichermaßen vorzuknöpfen“.
Das führte ihm zufolge dazu, dass „Kontraste“ auf Social Media einmal als „konservatives Magazin“ tituliert wurde, ein andermal als „linkes Magazin“. Da habe er zu seinem Team gesagt: Leute, genau da sind wir richtig. Das schafft Vertrauen beim Publikum. Am Ende seiner drei Jahre bei „Kontraste“ war es das meistgesehene Polit-Magazin im deutschen Fernsehen.
Alle gleich behandeln, niemanden schonen
Mit ähnlichem Spirit und Drive machte sich Matthias Deiß auf seiner nächsten Karrierestufe an „Bericht aus Berlin“ und die „ARD-Sommerinterviews“ ran. Zum Refresh letzterer gehört etwa, Hintergrundgrafiken einzublenden, Spitzenpolitiker mit Fotos zu konfrontieren (Olaf Scholz mit alter Lockenpracht!) und sie als Pappkameraden auf Vox-Pops-Fang zu schicken. Hart, aber manchmal auch erfrischend frech sind speziell seine Interviews, die schon Friedrich Merz ins Schleudern brachten („Kennen Sie eigentlich alle Namen aus dem Zukunftsteam, Herr Merz?“). Aber man kann nun wirklich nicht behaupten, dass er die linke Seite, etwa den SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil (SPD), mit Samthandschuhen angefasst hätte.
Die Deiß-Devise „alle gleich behandeln und niemanden schonen“, der sich, wie er betont, auch seine Hauptstadtstudio-Kollegin Tina Hassel verschrieben habe, zahlt sich aus. Stand jetzt habe „Bericht aus Berlin“ die besten Quoten seit Bestehen auf dem Sendeplatz Sonntag, 18 Uhr. Das sei alles „Ergebnis harter Teamarbeit“. Und im Team mit Hassel und Martin Ganslmeier leitet Deiß nebenbei auch einen „Riesenreformprozess“ an.
Fernsehen, Hörfunk, Social Media, alles wird im ARD-Hauptstadtstudio gerade zusammengelegt. 2023 soll ein neues, crossmediales CvD- und Planungsbüro die Arbeit aufnehmen, wo „aus einem Guss geplant, gedacht und geleitet wird“. Bildlich gesprochen: Die Berliner Mauer zwischen den Bereichen fällt. Das gefällt intern noch nicht allen, es soll aber „die inhaltliche Schlagkraft erhöhen“.
Deiß müht sich also sehr, „durch gute inhaltliche Arbeit“ Vertrauen beim Publikum wiederherzustellen, was nicht zuletzt durch die rbb-Affäre gelitten hat. So ein „Fehler“ wie in besagtem „Bericht aus Berlin“ ist da sicher nicht förderlich.
Also, wie konnte er passieren?
Es war, wie sich das NDR-Medienmagazin „ZAPP“ erklären ließ: quasi technisches Versagen. Verrutschte Time-Codes. „Der Fehler ist uns beim Produzieren des Beitrags im Schnitt passiert“, erklärte Matthias Deiß im „Bericht aus Berlin“.
Er glaubt, man könne an diesem Einzelfall gut erkennen, wie wichtig ihm eine offene Fehlerkultur ist: „Wir haben den Vorgang intern aufgearbeitet, ihn nach außen transparent gemacht, korrigiert und uns natürlich auch dafür entschuldigt. Für mich ist das eine journalistische Selbstverständlichkeit.“ Die Reaktionen zeigten im Übrigen, dass eine solche Fehlerkultur gewürdigt werde und Vertrauen wiederherstelle.
So oder so, im ARD-Hauptstadtstudio stehen noch andere Veränderungen an. Am 31. Mai 2024 übergibt Tina Hassel ihren Posten an den derzeitigen Brüssel-Korrespondenten Markus Preiß. Spekulationen über ihre berufliche Zukunft schießen seither ins Unkraut, sogar ein zweiter Anlauf in eine Intendanz wurde ihr nachgesagt, diesmal beim rbb. Auch Matthias Deiß‘ Name fiel schon im Rennen um Patricia Schlesingers Nachfolge. Und ganz so abwegig ist es ja nicht, schließlich war er dem Sender lange Jahre eng verbunden. Aber hätte er Ambitionen?
Matthias Deiß ist klug genug, um auf diese Frage nicht direkt zu antworten, sie sogar in der Autorisierung einfach wegzuwischen. Öffentlich festgehalten wissen will er einen Satz, der durch Pathos besticht: „Politikjournalist ist für mich kein Karriereberuf. Das ist ein Herzblutberuf.“
Das lassen wir dann mal wirken.