Was wäre, wenn Kai Gniffke, SWR-Intendant und baldiger ARD-Chef, eine der Radiowellen bei sich im Südwesten einfach abschalten würde? Wäre SWR3 darunter? Das ist, zugegebenermaßen, ein äußerst hypothetisches Gedankenspiel, schließlich ist die Pop-Welle in Baden-Baden das Dickschiff in der SWR-Flotte und Thomas Jung ihr Kapitän. Aber mal herumspinnen ist doch legitim, seit der Intendantenkollege vom WDR am Mittwochabend in der steifen Brise Hamburgs mehr oder weniger privat Fragen ventilierte wie diese: Warum noch 64 ARD-Radio? Das muss doch nicht sein.
Oder, was meinen Sie, Herr Jung?
Die Wellen, die am Vorabend hoch im Norden von Tom Buhrow losgeschlagen wurden, sind Donnerstagfrüh natürlich auch bei Thomas Jung tief im Südwesten angelandet, und das in einer ohnehin schwer umtosten Zeit bei SWR3.
Seit bald 20 Jahren managt der frühere Kriegsreporter eine der führenden Radios des Landes; die vergangenen zehn davon als Programmchef und Hauptabteilungsleiter der SWR3 PopUnit inklusive Verantwortung für das ebenfalls zu dieser Einheit gehörende junge Programmangebot DASDING. Auf Jungs Agenda momentan von höchster Priorität: die Segel bei SWR3 neu setzen.
„Das entspricht einfach nicht mehr dem Hörverhalten und der Mediennutzung von heute“, erklärt der Wellenchef, der in all den Jahren der Programmverantwortlichkeit seine journalistische Brille nie abgelegt hat. Die Stärkung der Aktualität hat derweil zur Folge, dass die Moderatoren und Sendungsproducer von SWR3 sich schwerpunktmäßig auf den Unterhaltungsbereich konzentrieren können. Zerstreuung, Ablenkung, Lachen, das ist Jung zufolge gerade in diesen post-pandemischen und kriegerischen Zeiten extrem wichtig.
Die anderen, nicht zwangsläufig besseren Zeiten kennt er mit seinen nun schon 61 Lebensjahren natürlich auch. Seine gesamte Karriere, fast möchte man sagen: sein gesamtes Leben hat Thomas Jung beim SWR verbracht, respektive dem Vorläufer Südwestfunk.
Vom Kriegsreporter zum Wellenchef
1980, mit 19 Jahren, fing der Abiturient aus Speyer im damaligen SWF-Studio Ludwigshafen als freier Mitarbeiter an. Die Leidenschaft fürs Radiomachen wurde er fortan nie wieder los. Für das Politik- und Germanistik-Studium parallel in Heidelberg brauchte er deshalb ein Jahr länger als manch andere Kommilitonen, dafür verkürzte sich das Volontariat. Die erste feste Aufgabe führte ihn 1988 als Korrespondent ins politische Bonn, die 1993 noch getoppt wurde von einer Auslandsstelle in Paris.
Mitterand und Chirac, Terror-Anschläge in der Metro und Atom-Tests auf dem Mururoa-Atoll, nicht zu vergessen der Tod von Prinzessin Diana in einem Pariser Autotunnel – an aufregenden Ereignissen mangelte es nicht, sodass Thomas Jung kaum Zeit investierte, um privat das Savoir-vivre in der Bretagne oder am Mittelmeer zu genießen, was er heute bedauert.
Ähnlich aufregend ging es daheim zu. Während er auf seinem Auslandsposten saß, gab es erste Anläufe, die beiden Südwest-Wellen SDR und SWF zu fusionieren. Sorgen kamen bei ihm auf: Wo wird dein Platz in diesem neuen Gefüge SWR sein? Vergessen sie dich oder darfst du länger bleiben, weil sie im Moment keine Verwendung für dich haben? In diese nervöse Phase hinein kam das Angebot aus Baden-Baden, SWR3-Chefreporter zu werden. Für Thomas Jung war das perfekt.
Schon in seinen frühen Berufsjahren schickte ihn der SWF immer mal wieder für drei, vier Wochen als Sonderreporter los. Insbesondere der Einsatz in Krisen- und Kriegsgebieten kickte ihn. Je wilder die Aufgabe, desto lauter schrie er „hier“. Die Belagerung von Sarajevo im Frühjahr 1992, Black Hawk Down in Mogadischu, Afghanistan nach Nine Eleven, all die Gräuel erlebte Jung aus nächster Nähe. Reporter sein – für ihn war und ist es die Königsdisziplin. Deshalb fördert er in seiner Crew nach eigener Aussage jeden, den es ins Ausland zieht.
Nur warum zog es dann ausgerechnet ihn selbst ins beschauliche Baden-Baden? Wie kommt ein Vollblut-Kriegsreporter zum Wellenchef?
Die Frage gefällt Thomas Jung und verleitet ihn zu einem Witz, über den er selbst am lautesten lacht: „Manchmal denke ich, das eine ist vom anderen gar nicht so weit weg.“
Gut, bei SWR3 geht es natürlich nicht um Leben und Tod, aber eine ernste Angelegenheit ist es schon, eine Radiowelle in der Reichweitentabelle auf den oberen Plätzen zu halten. Er stehe jeden Tag auf, „um nicht die Nummer 10 zu sein“, sagt Jung. Die aktuelle ma-Platzierung: Nr. 4.
Das war so nicht unbedingt zu erwarten. Denn laut vorheriger Media Analyse lief es nicht mehr ganz so rund bei SWR3. Während die Corona-Inzidenzen stiegen, rauschten die Reichweiten nach unten, so wie bei vielen anderen Radiostationen. Irgendwie logisch. Wer im Homeoffice hockt und später als sonst aufsteht, schaltet später, weniger oder vielleicht auch gar nicht ein. Und wer will sich schon dauernd die gute Laune von Todeszahlen und anderem Corona-Horror verderben lassen?
„Wir haben es mit Corona übertrieben“, gibt sich Thomas Jung selbstkritisch. Jeden Stein hätten sie dreimal umgedreht, weil sie dachten, es gibt ein wesentlich größeres Interesse am Virus, als es draußen tatsächlich der Fall war. Für die Hörerinnen und Hörer war aber ein Maß überschritten. Sie haben die schlechten Nachrichten satt. Sie ertragen sie mitunter auch nicht mehr, erst recht seit der Ukraine-Krieg der Pandemie als Stimmungskiller dicht gefolgt ist.
"Wir müssen grundsätzlich raus aus dieser Spirale, die Geschichten in die gleiche negative Richtung weiterzudrehen."
„Daraus haben wir gelernt“, sagt der Wellenchef, der ein Faible für constructive journalism, also lösungsorientierten Journalismus entwickelt hat. Die neue, positive Stimmung im SWR3-Programm macht Jung am Beispiel des Neun-Euro-Tickets konkret, damit es nicht theoretisch bleibt:
Zwei Ansätze gäbe es da. Entweder: coole Sache. Oder: Wer soll das finanzieren? Was passiert durch Corona in den überfüllten Zügen etc. pp.? „Der eine Ansatz hat die Leichtigkeit und entsprach der Aufbruchstimmung der Menschen“, referiert Jung. „Der andere ist nicht unbedingt einer guten Laune förderlich.“ Natürlich dürfe man kritische Punkte nicht außer Acht lassen. „Aber wir“, und damit meint er nicht SWR3 allein, „müssen grundsätzlich raus aus dieser Spirale, die Geschichten in die gleiche negative Richtung weiterzudrehen. Wir müssen wie vor der Pandemie bei den Menschen, ihren Stimmungen und Interessen sein, schauen, wie sie ticken. Sonst kommt man aus dieser Negativkiste nicht mehr raus.“
Was der SWR3-Chef nicht ändern konnte und seinem Programm ebenso geschadet hat: die coronabedingte Funkstille im Event-Bereich. New Pop Festival und all die anderen rund 360 von der Popwelle veranstalteten Feste pro Jahr, die ihr in Vorpandemiezeiten bis zu 700.000 Menschen zuführten, waren auf Null gestellt.
„Das hatte natürlich Auswirkungen, weil die Marke nicht mehr erlebbar war.“ Umso freudiger erzählt Jung vom Comeback jenes Festivals, das einst Amy Winehouse und Ed Sheeran die erste große Bühne auf dem Weg zur Weltkarriere bereitete: Das New Pop war nach einer eher betrüblichen Corona-Edition 2021 in diesem September zurück und damit auch das pulsierende Leben in der sonst so ruhigen Kurstadt. Ganz Baden-Baden feierte die Rückkehr und Thomas Jung als oberster Projektleiter und Fan von DJ-Hits wie Purple Disco Machine („ein Mood-Trigger“) natürlich mit.
Diese durchaus angenehme Seite seines Berufs hätte er wohl nicht erlebt, wenn es im August 1998 im Südwesten nicht zur Kernschmelze gekommen wäre. SDR3 und SWF3 wurden eins, und das neue Programm SWR3 fiel erstmal in den Keller, „weil quasi Mercedes und Audi fusioniert wurden“, wie Thomas Jung erklärt. „Wenn du dann anfängst, ein Kompromissmodell zu bauen, mag das weder der eine noch der andere Kunde.“
"Intensiver über Kooperationen nachdenken"
Die Not war also groß, die „fusionsbedingten Probleme“ zu lösen. Und so wurde der SWR3-Chefreporter Thomas Jung vom SWR3-Programmchef Gerold Hug gefragt, ob er nicht Lust hätte, die „Optimierungsphase“ mit ihm zu leiten. Daraus entwickelte sich dann bei Jung ein so großes Interesse am Programmmachen und all den anderen neuen spannenden Herausforderungen, dass er endgültig das Kriegs- und Krisenfeld verließ. 2013 stieg er von Hugs Stellvertreter zum Hauptchef auf. Seit 2016 verantwortet er zudem die Zulieferredaktion des SWR für funk.
Holla, danach war aber schwer was los! Saarbrücken war not amused ob der hegemonialen Gedanken aus Stuttgart. Klappe zu, Affe tot – bis eben zum vergangenen Mittwochabend.
Seither ist die frei nach Tom Buhrow formulierte Frage wieder berechtigt: Hört sich Rae Garvey in Baden-Baden anders an als in Bremen oder Berlin? Nein? Brauchen wir dann in der ARD mehrere Radios für Popmusik?
SWR3, wirft Thomas Jung eilig ein, sei doch schon ein schönes Beispiel dafür, wie man kooperieren könne: „Wir liefern jede Nacht nach Deutschland die ARD Pop Nacht aus. Viele Sender sind angeschlossen.“ Und natürlich wären weitere dieser White-Label-Angebote denkbar, also Sendungen, die ohne senderspezifische Kennung von mehreren ARD-Wellen verbreitet werden. Er könne sich zudem vorstellen, dass es auch in anderen Häusern solche Gedanken gibt. „Aber Sie dürfen bei der ganzen Diskussion eins nicht vergessen“, mahnt Jung, „das Thema Regionalität ist für die Menschen von großer Wichtigkeit.“
Ganz grundsätzlich ist der SWR3-Chef schon sehr bei Buhrow und Gniffke. Auch er glaubt, dass es an der Zeit ist, „generell über Kooperationen intensiver nachzudenken“, sowohl im Audio- als auch im Bewegtbildbereich. Man könne sich sicher sein, dass es auch in seinem Kopf etliche Ideen gibt, was man da tun könnte. Aber, bremst Thomas Jung alle Erwartungen an einen Geistesblitz ein: „Da gibt es über mir und in allen Häusern andere Hierarchieebenen, Chefinnen und Chefs, die Pläne zu gegebener Zeit diskutieren und vorstellen werden.“
Sein Wort in Radiogottes Ohr.