Wer im „Tatort“ einen Mörder spielt, ist in der Regel unbescholtener Schauspieler. Rollen werden gespielt und Bösewichte gehören schon seit Anbeginn des Theaters zum klassischen Repertoire. Sich in fremde Figuren zu denken sei er gewohnt, sagt Tom Keune. Viel schwieriger weil persönlicher seien Rollen, die einem näher gehen - wie seine Hauptrolle des Andreas in der von Benjamin Gutsche geschriebenen schwulen ARD-Serie „All you need“. Es ist für ihn, als nach eigener Aussage heteronormativ gelesener schwuler Mann, die erste schwule Rolle - und das obwohl er zunächst am Theater und seit 2010 vor der Kamera schon dutzende Charaktere in Filmen und Serien spielte. Es ist darüber hinaus auch die erste Hauptrolle in einer Serie für den 46-Jährigen: „Das Casting kam vor einem Jahr direkt nach ActOut. Da guckt man als schwuler Mann natürlich doppelt darauf, wie die Figur erzählt wird.“ 

Gemeint ist die Rolle des Andreas, eine der beiden neuen Hauptrollen in der zweiten Staffel, die am kommenden Freitag in der ARD-Mediathek online geht. Sie erweitert das Spektrum der Figuren in der Hochglanz-Soap um einen deutlich erwachseneren, von dem Drama um ihn herum weitgehend unbeeindruckten Trainer einer queeren Rugby-Mannschaft. „Andreas erweitert die Projektionsfläche schwulen Lebens bei ‚All you need‘. Ein Mann, der einerseits gefestigter im Leben steht als die jüngeren Charaktere und weitgehend hetero-normativ gelesen wird - so wie ich. Ich bin sonst für Caster:innen eher der Typ für KfZ-Mechaniker, Anwalt - oder eben Polizist“, sagt Keune, der seit sieben Jahren in einer wiederkehrenden Rolle der ARD-Filmreihe "Eifelpraxis" eben genau das spielt, einen Polizisten. 

Tom Keune © Degeto / Hardy Spitz Hetero-Polizist statt schwuler Rugby-Trainer: Tom Keune in der "Eifelpraxis"

Doch zurück zum schwulen Drama in Berlin: Eingeführt wird seine Rolle zum Auftakt der zweiten Staffel über eine private Sexparty, bei der Serienfigur Andreas in der Küche snackt, während sich in den anderen Zimmern vergnügt wird. „Ich säße wohl ebenso in der Küche und würde mich mit dem Kuchen beschäftigen“, sagt Keune und lacht. „Andreas ist auch ein Typ, der schon viel durch hat und ich habe das Gefühl: Nicht nur ich finde mich da wieder. Allerdings war das auch schon die Gemeinsamkeit. Ich spiele kein Rugby, mag keinen harten Mannschaftssport.“ Im letzten Jahr war „All you need“ noch explizit für die Mediathek produziert, diesmal findet die zweite Staffel schneller ihren Weg ins Gemeinschaftsprogramm der ARD.

 

„Die FSK hätte ganz sicher was gegen die Ausstrahlung nach der ‚Tagesschau‘"

 

Doch während die Nonnen jahrelang selbstverständlich waren zur besten Sendezeit, bekommen schwule Liebesgeschichten einen Platz am späten Abend. Keune lacht: „Die FSK hätte ganz sicher was gegen die Ausstrahlung nach der ‚Tagesschau‘, allein schon bei der ersten Folge. Aber wir sind bei der zweiten Staffel schon wieder weiter: Das Erste zeigt ‚All you need‘ da, wo es ohne zu schneiden möglich ist: Am 27. April nach den ‚Tagesthemen‘ um 22.50 Uhr. Und vor einigen Monaten habe ich mich sehr über ‚Eldorado KaDeWe‘ gefreut.“

Die erste Staffel „All you need“ kam im vergangenen Jahr so gut an, dass die ARD eine Fortsetzung beauftragte. Doch es gab auch Zündstoff für die queere Community. Einerseits ging es um die Fokussierung auf schwule Charaktere, andererseits um die Tatsache, dass die Hauptdarsteller der Serie heterosexuell sind - insbesondere, weil fast zeitgleich mit ActOut für mehr Sichtbarkeit gekämpft wurde. Für was gilt es zu kämpfen: Repräsentanz oder künstlerische Freiheit? „Meine persönliche Meinung ist, dass es nicht darum geht, dass nur queere Menschen queere Rollen spielen können. Wir sind von Beruf Schauspieler und ‚All you need‘ beweist das“, sagt Tom Keune mit Blick auf ActOut. 

"Es ging und geht mir darum, dass alle alles spielen können sollen - das muss das Ziel sein - aber es gibt noch zu viele Kolleg:innen, die sich zu Recht darum sorgen, dass ihnen eben nicht alles zugetraut wird, wenn sie zu sich stehen.“ Fatal wäre es, ergänzt Keune, wenn alle nur noch das spielen dürften, was sie sind. Auf die Vielfalt der Charaktere in Staffel 1 von „All you need“ bezogen, räumt Keune ein: „Da fehlte mir auch was“, aber schiebt gleich hinterher: In einer halbstündigen Serie mit wenigen Folgen kann man es nicht allen recht machen und nicht alles abbilden. Fundamental-Kritik gerade aus der Community wurmt den neuen Hauptdarsteller von „All you need“. 

„Ich weiß dass die Serie nicht nur Fans hat. Und natürlich gibt es Stimmen, von Zuschauern mit heterosexueller Orientierung aber auch aus der Community, die sagen ‚Damit kann ich mich nicht identifizieren. Das guck ich mir nicht an‘. Die Begründung finde ich schwach: Ich hab mich jahrzehntelang in Film und Fernsehen mit heterosexuellen Rollen identifiziert, weil nichts anderes gezeigt wurde. Jetzt ist ein erster Schritt getan und dann: ‚Ich kann mich damit nicht identifizieren‘? Das lass ich nicht gelten“, sagt Keune. „Doof finden darf man alles, aber es sind wahrhaftige Charaktere, die Benjamin Gutsche da geschrieben hat.“

 

"Schwulsein bedeutete für mich damals ‚La Cage aux Folles‘ und schrille CSD-Wagen."

 

Das Unverständnis über die Mäkelei sitzt tief, weil es für den Teenager Tom Luxusprobleme gewesen wären. Aufgewachsen ist Keune in Stolberg bei Aachen, einer „mittelgroßen Kleinstadt“ mit gut 50.000 Einwohnern damals. Es sind die frühen 90er Jahre als der ungeoutete schwule Teenager allein auf weiter Flur war mit seinen Gedanken. Vom Internet hatte damals noch niemand gehört. „Also war ich allein auf weiter Flur mit meinen Gedanken. Schwulsein bedeutete für mich damals ‚La Cage aux Folles‘ und schrille CSD-Wagen. Das fand ich krass, weil ich mich dort auch nicht wieder fand. Ich hatte auf beiden Seiten das Gefühl, ich muss in ein genormtes Bild passen. Ich wusste es nicht besser, weil die mediale Bandbreite queeren Lebens - wenn es denn überhaupt mal vorkam - extrem zugespitzt und lückenhaft war. Da hätte mir ‚All you need‘ vor 30 Jahren vieles erleichtert.“

Tom Keune © Degeto / Andrea Hansen "Andreas erweitert die Projektionsfläche schwulen Lebens bei ‚All you need‘."

Längst lebt Keune in Berlin, ist Teil einer Patchwork-Familie mit einem lesbischen Ehepaar. Sie haben mehrere gemeinsame Kinder. „Als ich meinem Opa gesagt habe, dass ich diese Familie gründe, hat er die beiden Frauen und meine Tochter sofort akzeptiert. Die anderen Kinder hat er nicht mehr kennengelernt, weil er dann verstarb. Er hat uns Respekt und viel Empathie entgegen gebracht, aber richtig darüber gesprochen haben wir nie. Er hat in seinem Leben sicher oft auch dieses sehr Klischee-behaftete Bild von homosexuellen Menschen vermittelt bekommen, das so gar nichts mit unserer Familie in Berlin zu tun hatte.“ Keune wird nachdenklich, pausiert. „Ich würde ihm gerne noch dafür danken, wie offen er vor diesem Hintergrund uns gegenüber war.“

War das die Motivation als einer von 185 Menschen im vergangenen Jahr bei ActOut mitzumachen? Nein, dafür gab es einen anderen Anlass. Keune holt kurz aus: „Ich bin seit diesem Jahr Schirmherr für die ICH e.V., ein interdisziplinäres Centrum für Hören, Sprache, Kommunikation und hilft gehörlosen und gehörgeschädigten Kindern und ihren Familien - und hätte mir das früher nie vorstellen können, die Verantwortung und Überzeugung für so eine Schirmherrschaft aufbringen zu können, aber dann ist 2018 mein Sohn zur Welt gekommen und hat eine sichtbare Hörschädigung. Es fällt auf, dass er nicht so ist wie viele andere. Als ich ihn das erste Mal im Arm hielt, war mein erster Gedanke ‚Naja, Schauspieler wird er schon mal nicht‘ - und hab mich dann sofort dafür geschämt. Total geschämt. Einem Neugeborenen Möglichkeiten und Chancen abzusprechen.“

 

"Ich möchte nicht, dass meine Kinder durch Film und Fernsehen den Eindruck vermittelt bekommen, keine richtige Familie zu haben."

 

Anderthalb Jahre später habe ihn sein Kollege und Freund Godehard Giese von der Aktion ActOut erzählt - und Keune hat sofort zugesagt. „Erst später habe ich realisiert, warum ich so instinktiv reagiert habe. Allein ohne meine Familie hätte ich mich sicher auch weiter so unterm Radar durchmogeln können. Ich habe nichts verheimlicht, aber auch nicht die Fahne geschwenkt. Familie, Freundeskreis, Kolleg:innen, sicher auch einige Produktionen wussten es. Es war mein Sohn, der mich motiviert hat, für Sichtbarkeit von Vielfalt und Chancengleichheit zu kämpfen. Dafür, dass man Barrieren im Kopf einreißt. Das war ein persönliches Ding: Ich musste da vorweg gehen, für meinen Sohn; für meine Kinder.“

Keune erzählt das ohne Pathos. Er ist kein Aktivist, es spricht ein Familienvater. „Ich möchte nicht, dass meine Kinder durch Film und Fernsehen den Eindruck vermittelt bekommen, keine richtige Familie zu haben. Das tut mir weh. Tucké Royale hat es auf den Punkt gebracht mit dem Satz: ‚Ich komme aus einer Welt, die mir nicht von mir erzählt hat.“ Ich habe mich lange nicht im Fernsehen wiedergefunden. Es wird seit ActOut besser - in den ersten gerade kommenden Produktionen aber auch wenn man mitbekommt, welche Stoffe gerade entwickelt werden und welche Rollen man angeboten bekommt.“

Ist ActOut im Jahr 2021 ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft? 185 queere Schauspieler*Innen outen sich mit enormen medialen Echo, weil doch nicht alles so liberal und offen ist, wie es an der Oberfläche den Anschein hat? Keune differenziert. Nein, nicht die Gesellschaft ist das Problem, es sind Film und Fernsehen die nicht Schritt halten. „Meine Familie und ich stehen mit beiden Beinen im Leben. Weder bei den Behörden, noch in der Kita, der Schule, dem Sportverein oder in unserem beruflichen Umfeld ist unsere Patchwork-Familie ein Thema. Gut, wir leben auch in Berlin und nicht in Stolberg. Ich will nicht so tun als wäre die Welt überall schon so aufgeschlossen. Aber aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich leben wie ich bin - nur existiert so etwas medial nicht. Ich würde sagen: Unsere Gesellschaft ist schon weiter als viele Drehbücher.“