Als im März 2015 bei RTL in Köln angeregt diskutiert wurde über die Frage, ob Inklusion im Fernsehen ein "Quotenkiller oder Qualitätsmerkmal" sei, war Carl Josef Statnik aus Vechelde-Bettmar gerade zehn geworden und noch nicht berühmt als "Comedian im Rollstuhl, der Stand-Up Comedy macht", was in dieser Kombination rein physikalisch betrachtet, hahaha, ein guter Witz ist, der von ihm selbst stammen könnte. Die Fachrunde aus Medienschaffenden und Aktivisten für die Belange behinderter Menschen jedenfalls ging damals mit der Erkenntnis auseinander, dass das US-Fernsehen beim Thema Inklusion schon viel weiter sei als das deutsche. Wer wissen wolle, wie Inklusion im Fernsehen aussehen könne, solle sich "Push Girls" anschauen.
In dieser Reality-Serie, die bei der deutschen Erstausstrahlung auf Sixx den etwas dämlichen Untertitel "Powerfrauen im Rollstuhl" verpasst bekam, geht es viel um Schönheit, um Karriere, um Beruf, auch Sexualität natürlich. Also all jene Themen, die auch "Sex and the City" verhandelt, nur fiktionalisiert. Ungewöhnlich, ja vorbildlich an "Push Girls" fanden die Experten, dass die Protagonistinnen alle wirklich im Rollstuhl sitzen und nicht nur so tun als ob. Sie reden auch frank und frei über Themen wie Katheterisierung und Assistenz, was, wie die Medienpsychologin Ute Ritterfeld glaubte, "einen deutschen Programmacher erst mal abschrecken würde".
Erst mal, ja. Aber kaum waren fünf Jahre vergangen, durfte Lutz Heineking jr., Regisseur und Creative Producer, für RTL nicht nur einen "echten", sondern auch einen (in der Rolle) sexuell ausgesprochen aktiven Rollstuhlfahrer in seine halb improvisierte und voll unterleibsfixierte Sitcom "KBV – Keine besonderen Vorkommnisse" einbauen. Gespielt wird dieser Alex von eben jenem Carl Josef aus Vechelde-Bettmar, der mit seinem Comedy-Ruhm den bürgerlichen Nachnamen Statnik abgelegt hat und inzwischen 17 Lebens- und drei Berufsjahre als Comedian zählt.
Es ist zwar keine Hauptrolle, die er in dieser von RTL als "langweiligste Serie der Welt" bezeichneten Kriminalkomödie abbekommen hat, aber immerhin: Annette Frier als "Rolli-Mutti" im Hauptcast, dazu Jürgen Vogel und Serkan Kaya als nicht ganz helle Polizisten im Nachtdienst und Gastspiele von Andrea Sawatzki und Kida Khodr Ramadan, das ist schon eine Nummer, wenn auch eine gut versteckte in der Streaming-Ecke RTL+.
Was zu der Frage führt:
Hat das deutsche Fernsehen in punkto Inklusion aufgeholt? Ist es, zumindest in der Nische, inklusiver geworden? Tun Sender genug für Menschen mit Behinderung?

Ein paar Tage zuvor ist Carl Josef aus Köln zurückgekehrt. Nach langer Zeit war er wieder dort "auf Arbeit", diesmal um eine neue Ausgabe von Eckart von Hirschhausens "Quiz des Menschen" aufzuzeichnen. Am 5. März wird sie im Ersten zu sehen sein und Carl Josef in einer neuen Rolle: als Quiz-Moderator. In einer Art "Quiz im Quiz" fragt er bei den Rate-Promis Inklusionswissen ab. Außerdem ist ein Talk-Teil mit "Eckart" eingeplant. Über das Thema Inklusion lasse es sich mit ihm "gut unterhalten", lobt Carl Josef: "Eckart hat einen guten Humor, er kennt sich aus, nicht nur in der Medizin, auch im Show-Business." Und wenn "Eckart" anfragt, ist Carl Josef ohnehin gerne dabei.
Man kennt sich, man duzt sich, spätestens seit Carl Josef als "Content Creator" bei Hirschhausens Instagram-Kampagne "WHAT IF …? In 80 Fragen um die Welt" mitmachte. Zuständig war er da für sein Leib-und-Magen-Thema: Inklusion. "Inkluencer" nennt man so was auf neudeutsch. Und darin ist der netzaktive Carl Josef wiederum schon sehr erfahren. Bereits 2020 ließ er sich als Inkluencer von der Aktion Mensch für die Mini-Comedy-Serie "Die Außenseiter" auf Youtube einspannen, die der Comedian Jan Overhausen produzierte und realisierte. Er ist Carl Josefs Entdecker und, ja, auch Retter aus einer Ausweglosigkeit, die sich Muskeldystrophie vom Typ Duchenne nennt.
Erfolgreichstes "NightWash"-Video
Im Alter von sechs Jahren wurde diese unheilbare Erkrankung, die die Muskeln schwinden lässt, bei Carol Josef diagnostiziert. Mit 12 war es bei ihm so schlimm, dass er fortan einen Rollstuhl brauchte. Der eigene Antrieb war weg, und wahrscheinlich würde er noch immer in seinem Kinderzimmer hocken und zocken, erzählte er in einem sehr persönlichen TV-Porträt, das die ARD im vorigen Herbst zeigte, wenn er nicht 2019 auf Instagram die Bekanntschaft mit eben jenem Jan Overhausen gemacht hätte, der ihn ermunterte: Probier’s doch selbst einmal aus mit Stand-Up.
Nach der Devise "Lachen ist die beste Medizin gegen die Barrieren in den Köpfen" formte der gerade mal 14-jährige Realschüler mit Overhausens Unterstützung ein Set aus Witzen, die so drastisch und brutal ehrlich sind, dass man sich am liebsten verschämt wegducken möchte, wenn es nicht so lustig wäre. Und am wenigsten schont sich Carl Josef dabei selbst. Schon den dritten Auftritt absolvierte er bei "NightWash", diesem legendären Comedy-Trainingslager in einem Kölner Waschsalon, mit dort bis dato ungehörig Ungehörtem aus der Gedankenwelt eines rollifahrenden Pubertiers.
Eine Kostprobe:
Sex mit der Krankheit? Na, da hoffe er doch sehr, dass es ihm nicht wie seinem Namensvetter, dem Josef aus der Bibel, ergehe: "ein Kind untergejubelt zu bekommen, ohne vorher Spaß gehabt zu haben". Er habe sich schließlich schlau gemacht: "Die kleine Raupe ist ein Schwellkörper, kein Muskel . . ." Die Kunstpause danach war wohlgesetzt, das Publikum brüllte und tat es noch mehr, als Carl Josef seine "Vorzüge" ins Spiel brachte: Interessierte Partnerinnen brauchten sich keine Sorgen zu machen. Er könne nicht "fremdgehen. Nur fremdrollen". Affären müssten gleichwohl "im Erdgeschoss stattfinden". Wieder ein Brüller.

"Ich glaube, wir haben es schon ganz gut hingekriegt, dass die Bildung nicht darunter gelitten hat", lacht er heute. Termine fielen oft auf Wochenenden oder in die Ferien. Davon sei er jetzt "Gott sei Dank erlöst". Im vorigen Sommer schloss er die Realschule ab. Seither absolviert er ein "einjähriges Praktikum", wie er es nennt, bei Endres‘ Agentur Endgame Entertainment – und arbeitet fleißig an der Erweiterung seines Repertoires.
So zeigte die ARD im vorigen Herbst die 14-teilige Reportage-Reihe "Carl Josef trifft . . ." mit ihm. Jugendliche mit und ohne Handicap, die ein gemeinsames Hobby teilen, bringt er dort zusammen, um "Barrieren zu brechen" und aufzuklären. Inwieweit ihm das gelungen ist? "Das Feedback ist durchweg positiv", zeigt sich Carl Josef zufrieden. Die Serie habe sogar als Unterrichtsmaterial in Schulen Einzug gehalten. Eine Fortsetzung sei im Gespräch. Parallel steckt er seine ganze Kraft in sein erstes Solo-Programm; die Tour "The Hype is Wheel", eigentlich schon für 2021 geplant, soll nächstes Jahr endlich stattfinden.
Die Witze werden selbst geschrieben
Ehrensache übrigens, dass er die Witze dafür "hauptsächlich alleine" schreibt. Wenn er wollte, hätte zwar auch er Zugriff auf ein Autorenteam, wie es in der Comedy-Szene gang und gäbe ist. Alle zwei Monate ein neues Set an guten Witzen abzuliefern, da müsse man sich schließlich schon "ganz schön zusammenreißen". Aber in seinem Fall hole er die Inspiration aus dem Alltag, aus dem Leben im Rollstuhl und mit seiner Erkrankung. "Für Leute, die nicht genauso fühlen können, ist es natürlich schwierig solche Witze zu schreiben, wie ich sie mache."
Was ihn selbst betrifft, scheint er witzetechnisch ziemlich schmerzunempfindlich zu sein. Wenn Comedy gut ist, lache er darüber. So einfach. Er sei jedenfalls der letzte, der sich angegriffen fühlt, wenn man einen Witz über ihn oder über Rollstühle raushaut. "Ich kenne die Branche. Ich weiß, wie es ist, als Comedian Witze zu machen. Die Kolleginnen und Kollegen meinen es ja auch meist nett."
Und so muss Annette Frier, Carl Josefs Serien-Mutti in "Keine besonderen Vorkommnisse", kein schlechtes Gewissen haben, weil sie in einer (hier dokumentierten) Drehpause, offenbar noch immer tief in ihrer Rolle, den Film-Sohn anraunzte: "Hast du heute schon irgendwas gemacht, außer auf deinem Arsch rumzusitzen?"
Ein Signal, ob es mit "KBV" womöglich weitergeht, hat Carl Josef nicht bekommen. Aber es gibt, natürlich streng geheim, eine Anfrage für eine Hauptrolle in einer "sehr guten TV-Serie" und als Jury-Mitglied in einer Casting-Show. Das sind wunderbare Aussichten für einen 17-jährigen Jungen, der von sich gesagt hat: "Ich habe die Krankheit und kann trotzdem ein geiles Leben haben. Warum sollte man die Zeit oder das Leben, was man hat, dann nicht so nutzen?"
Nichts könne ihn aufhalten, hat Carl Josef in seinem allerersten Comedy-Set bei "NightWash" vor drei Jahren gesagt und nach einer gut getimten Pause hinzugefügt: "bis auf Bordsteine". Aber wo ein Wille ist, ist auch eine Bordsteinsenkung. Alles ist möglich.
Wer, wenn nicht Carl Josef hätte das bewiesen?