Am gestrigen Freitag um 21:51 Uhr Ortszeit gab Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping das Startsignal für das erste Weltfest des Wintersports in Peking. Ein augenschmeichelndes Feuerwerk der Technik bot sich bei der Zeremonie im „Vogelnest“ genannten Stadion. Aber verspürt irgendwer überhaupt noch Lust, sich Olympia im Fernsehen anzuschauen? Zumal nach dem TV-Abend vorigen Montag im Ersten, als die Reportage „Spiel mit dem Feuer – Wer braucht noch dieses Olympia?“ all die hässlichen Wahrheiten präsentierte, die von der Farbenpracht der Eröffnungsfeier kaum zu übertünchen sind?
In Internierungslagern misshandelte Uiguren, Beton-Gigantomanie in den Bergen von Zhangjiakou und Yanqing und ein Internationales Olympisches Komitee (IOC), das unbeirrt an der Großartigkeit seiner Vergabeentscheidung festhält – der Film von Nick Golüke und Robert Grantner war in so vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Auch weil da nicht ein mit allen Wassern gewaschener Interviewprofi die richtigen Fragen stellte, sondern der ehemalige Skirennläufer Felix Neureuther.
In der High Society des Sportjournalismus holte sich der mehrfache Weltcup-Sieger und Olympia-Teilnehmer (der in Turin, Vancouver und Sotschi allerdings Metall verpasste) auf Anhieb und zurecht viel Lob ab: „Neureuther auch als Presenter ein Toptalent.“ Aber auch diese Twitter-Spitze konnte sich einer nicht verkneifen:
„Hat die ARD eigentlich keine Journalisten mehr, oder warum lässt sie Felix Neureuther den Job machen?“
Aber bitte, doch gerade ihn!
Um die nötige Aufmerksamkeit für ein sportpolitisch heikles Thema zu bekommen, hätte die ARD wohl keine bessere Wahl treffen können als ihren weltbekannten Wintersportexperten, der nicht mehr selbst die Rennpisten hinuntersaust, sondern abseits am Mikrofon kommentiert.
Und nicht zuletzt ist dieser Felix Neureuther, 1984 in Garmisch-Partenkirchen in eine Skifahrer-Dynastie geboren, um scharfe Worte speziell gegen das IOC noch nie verlegen gewesen.
Kommerz statt Sport
Das ist er auch an jenem Abend im Januar nicht, als er sich in eine Veranstaltung des Bayerischen Journalisten-Verbands hineinzoomt. Irgendwie frisch, aber zerzaust sieht er aus. Sorry, lacht Felix Neureuther, er sei noch schnell eine Runde langlaufen gewesen, um vor dem Weltcup-Wochenende in Kitzbühel den Kopf frei zu kriegen: „Die Kinder sind in der Badewanne und ich grad raus.“ Sauber!
„Dem IOC geht es nicht mehr um den Sport, sondern nur noch um den Kommerz.“
„Du kannst nicht mit Schaufel und Bagger daherkommen und einen Skiort aus dem Boden stampfen.“
„CO²-neutrale Spiele? Entschuldigung, wenn ich das Wort in den Mund nehme: Das ist Bullshit.“
„Rektalabstriche bei den Snowboardern? Unfassbar! So was kann man keinem Menschen zumuten. Das hat nichts mit dem Wintersport zu tun, den wir so lieben.“
Neureuthers engagierte Rede an jenem Januarabend mündet schließlich in einem Appell: Er wünsche sich, dass alle Sportlerinnen und Sportler in Peking sich zusammentun und „gemeinsam an einem Strang ziehen“, damit sich am System Olympische Spiele etwas verändert. „Es bringt nichts, wenn nur ein Athlet den Mund aufmacht.“ Den Einwand, dass politische Botschaften wie etwa das Herniederknien vom IOC stante pede bestraft würden, lässt er nicht gelten: „Es muss wurscht sein. Dann sollen sie mal tausend Sportler bestrafen. Dann steht auf einmal keiner mehr da mit einer olympischen Medaille. Dann ist das das Ende der Olympischen Spiele.“
Ob er den Mut dafür auch als aktiver Sportler aufgebracht hätte?
Felix Neureuther ist sich dessen sicher: „Ich bin ja, nennen wir es mal so, ein kleiner Kritik-Mensch, der sich ungern den Mund verbieten lässt.“ Schon damals in Sotschi, 2014, habe er „Dinge angeprangert“, die ihm missfielen (was man z.B. hier im „Spiegel“ nachlesen und im Prinzip eins zu eins auf heute übertragen kann). „Es ist dann schon Druck ausgeübt worden, auch von offizieller Stelle, dass ich doch solche Dinge unterlassen sollte. Aber wie gesagt, ich lasse mir von niemandem den Mund verbieten.“
Das wird man nun in den kommenden zwei Wochen nachprüfen können. Nach dem gestrigen Olympia-Auftakt, dessen Regie beim ZDF lag, geht es seit heute Samstagfrüh um drei mit den Spielen in der ARD weiter – und damit auch mit Felix Neureuther und Skisprung-Ass Sven Hannawald, die als Experten den beiden Moderatorinnen Julia Scharf und Jessy Wellmer mit ihrem Fachwissen assistieren. Sie tun das allerdings nicht von Peking aus, sondern auf dem schneelosen Lerchenberg in Mainz. Nur ein digitaler Zwilling von Neureuther und Hannawald reist ins fernöstliche Winterwunderland (wie in diesem ARD-Werbespot zu sehen).
Schon früh hatten sich ARD und ZDF festgelegt, nur in sehr reduzierter Mannschaftsstärke vor Ort in Peking aufzuschlagen und stattdessen die Berichterstattung überwiegend aus einem gemeinsamen Studio in Mainz, dem so genannten National Broadcast Center, zu stemmen. Wenn man sieht, wie viele Außenreporterkräfte durch einen, hoppala, positiven Corona-Test inzwischen zur Kamerapause verdonnert wurden (Claus Lufen! Michael Antwerpes! Lea Wagner! Hajo Seppelt), noch bevor die Spiele überhaupt begonnen haben, dann war das auch eine vorausschauende Entscheidung.
Fast hätte übrigens auch Felix Neureuther dasselbe Schicksal ereilt. Seine Tochter Matilda infizierte sich wenige Tage vor Olympia-Start mit dem Virus, doch er selbst blieb gesund, sodass sein Dienstherr BR, der bei den Winterspielen die Federführung hat, ihn weiter „100% eingeplant“ hat.
Als „Botschafter für Sport, Spaß, Fairness und Natur“ will sich Felix Neureuther in der Experten-Rolle verstanden wissen. Das kommt nicht zuletzt dem Bayerischen Rundfunk zupass, der beim ARD-Wintersport die Federführung hat. Sportchef Christoph Netzel, nach den Vorzügen Neureuthers gefragt, kommt aus dem Loben jedenfalls nicht heraus: Ein „Geschenk für jeden Sender“ sei er. Nicht nur fachlich „extrem gut“, sondern auch „unterhaltsam, g‘scheit, bodenständig, bayerisch“ und mit gutem Draht zu Athletinnen und Athleten. Dass er sich nach seiner aktiven Sportlerlaufbahn „für uns entschieden“ hat, stimmt Netzel, in Personalunion ARD-Teamchef Olympia 2022, „sehr froh“. Es gebe nun mal eine langjährige Verbindung zum Bayerischen Rundfunk. „Da ist einfach was gewachsen.“
Felix Neureuthers Mutter, „Gold-Rosi“ Mittermaier, brachte in den 70ern in der BR-Sendung „Tele-Ski“ der Fernsehnation Leibesertüchtigung bei. So was prägt, auch familienintern. Rosis Filius, inzwischen 37, setzt die Fitness-Tradition mütterlicherseits fort: Im Lockdown entstanden mit ihm die zwei Webserien „Olympia im Kinderzimmer“ und „Beweg dich schlau“ für distanzlernende Kids.
Das Unterhaltungsgen scheinen die berühmten Eltern, die zu ihren Hochzeiten Lieblinge des Showfernsehens („Dalli Dalli“) wurden, ohnehin an Felix Neureuther vererbt zu haben. Der setzte sich an den Tresen bei „Inas Nacht“, kämpfte bei „Schlag den Star“, bot „Bares für Rares“ feil, spielte mit Hannes Ringlstetter Schafkopf im BR und machte bei „Klein gegen Groß“ mit. Ein „wunderbares Format“, sagt der bald dreifache Familienvater (weiterer Nachwuchs ist im Anmarsch) über Kai Pflaumes Familienshow. Auch „Inas Nacht“ findet er „sehr lustig“. Aber karrieremäßig sich auch in diesem Fach weiterentwickeln? Da ist Felix Neureuther noch unentschlossen. Er versuche erst einmal, „Erfahrungen zu sammeln“.
Autor, Aktivist, Testimonial
Berufliche Ambitionen hegt er derweil viele andere auch. Als Kinderbuchautor und Unternehmer. Als Umweltaktivist und Testimonial für Zahnpasta und Waschpulver. (Wobei einige kritische Neureuther-Fans nicht zamkriegen, wie er den Gebrauch von Pulverpads mit Klimaschutz verknüpfen kann.)
Auch wenn Felix Neureuther, ausweislich seiner eigenen Homepage, „Werte“ und „Engagement“ an erste Stelle stellt, ist es ja so: Von den lukrativen Potentialen der Fernsehvermarktung und des Sponsorings im Wintersport, die er in ihrer Gigantomanie so vehement anprangert, profitiert er natürlich ebenso, wenn nicht noch mehr, wie seinerzeit die Werbefiguren Mittermaier-Neureuther. Was ihm sehr wohl bewusst ist.
Und so findet sich in der eingangs erwähnten ARD-Reportage auch diese selbstkritische Einschätzung, die im Widerspruch steht zu Neureuthers Rufen nach einem Systemwechsel, nach dem „back to the roots“ bei Olympischen Spielen: „Ich bin auch Teil dieser ganzen Industrie“, sagt er.
Will heißen: Ohne die spektakulären Bilder für Millionen Wintersportfans gäbe es kein Werbeinteresse und keine Einnahmen. Events wie das jetzt in Peking sichern auch Felix Neureuther sein Salär. Früher als Sportler, jetzt als TV-Experte.
Das in dieser Deutlichkeit so klar zu kommunizieren an einem Montagabend in der ARD um 20:15 Uhr, macht Neureuthers Film noch sehenswerter. Die Auflösung des Dilemmas von Profit und Leid bleibt der Sport- und Fernsehstar gleichwohl schuldig.
Aber vielleicht vergess‘ ma das jetzt für eine Weile.