Kaum zwei Wochen her, da stänkerte die „taz“, in der deutschen Fernsehlandschaft werde die „Alte-weiße-Männer-Suppe“ immer noch zu heiß geköchelt. Viel zu viel dauere viel zu lange, „weil an den Schaltstellen immer noch sehr männlich gedacht und vor allem gemacht wird“. Produktionsfirmen sollten sich bei Netflix eine Scheibe abschneiden. Hier habe man verstanden: „Diversity sells. Es soll schließlich allen schmecken.“ Besonders pikant: Die ARD-Filmschmiede Degeto kriegt in diesem würzigen Textchen noch eins extra übergebraten. Ja, es gebe da zwar mittlerweile einen Leitfaden für mehr Diversität in ihren Produktionen. „Erfreut sich allerdings nicht durchgehender Beliebtheit.“
Prost Mahlzeit!
Nun hat besagte Degeto seit Mai mit Thomas Schreiber einen neuen Chef, keine Chefin mehr. Man tritt ihm sicher nicht zu nahe, wenn man ihn mit seinen 61 Jahren nicht mehr zu den Jüngsten zählt. Und sein familiärer Hintergrund mag nur insofern international sein, als die Eltern aus Freiberg in Sachsen stammen (bis 1990 Ausland!) und Onkel Erich unter Rommel in Afrika kämpfte.
Warum sitzt also genau er jetzt am Schalthebel der Macht, die bestimmt, was die ARD an Filmen und Serien produziert und einkauft? Was befähigt ihn, den bisherigen Show-Koordinator der ARD, sich jetzt ausschließlich mit fiktionalen Stoffen zu befassen?
Ab in die Küche!
„An meinem Lebenslauf können Sie sehen: Es gibt auch Wege zur Kreativität, die nicht über Filmhochschulen laufen“, fährt Schreiber fort. In seinem Fall: über viele Stunden in den Programmkinos seiner Geburtsstadt Köln, wo er sich zu Schülerzeiten den Filmkanon reinzog (unter anderem „Im Reich der Sinne“ von Nagisa Oshima, oh la la!). Aber erstmal wurde der (unvollendete) Bielefelder Student der Literatur, Geschichte „und ein bisschen Jura“ Journalist. Zunächst frei für „Konkret“ und andere. Ein hartes Brot (ach, wir kennen das). Manchmal reichte es nur für eine Dose Erbsen und Möhren. Dann die Rettung: ein Volontariat beim NDR und Einstieg als Redakteur bei der „Tagesschau“ just zum Fall der Mauer. Doch in Hamburg hielt es ihn nicht lang.
Schon als Volontär Ende der 1980er beim NDR antwortete Thomas Schreiber auf die Frage, was willst du mal machen: Korrespondent in London. „War ein bisschen frech“, findet er im Nachhinein, „aber ich dachte, wann sollst du es sagen, wenn nicht jetzt?“ Vier Jahre später klappte es tatsächlich.
Schreiber also Mitte der 1990er mittendrin in London und (noch) ohne Familie. Wilde Zeit. Auch beruflich unglaubliche Freiheit. Von Edinburgh Fringe Festival über den Nordirland-Konflikt, Tony Blair und Osterglocken-Farmer in Cornwall bis zur Release-Party der Spice Girls – er konnte machen, was er wollte. Er musste nur ein Radioprogramm finden, das es sendet. Das zeigte ihm: „In der ARD steht einem die Welt offen und eigentlich fast jede Tür.“ Weitere fünf Jahre noch, und er würde nach Washington wechseln, sich diesen zweiten großen Traum erfüllen. Dann rief eines morgens Jobst Plog an, damals Intendant des NDR: Willst du nicht nach Hamburg kommen? Da wird ne Stelle frei. Probier mal Hierarchie aus.
Also ging Schreiber 1999 durch diese Tür und lernte fortan Hierarchie beim NDR.
In seiner Erinnerung war die erste Zeit als Chef des Programmbereichs Kultur/Fernsehen für ihn und alle Beteiligten „nicht in jeder Sekunde leicht“. So fanden es die Abteilungsleiter befremdlich, dass er morgens in der Konferenz fragte, habt Ihr „TV Total“ gestern gesehen? Noch befremdlicher, als er acht Jahre später – nun auf Vorschlag von ARD-Programmdirektor Günter Struve zum NDR-Programmbereichsleiter „Fiktion und Unterhaltung“ befördert mit Zusatzaufgabe ARD-Unterhaltungskoordination – als erstes die Wettbewerber besuchte, statt die Leine loszulassen für die 35. Variante des „Musikdampfers“. Zu Frank Hoffmann von VOX ging er zum Beispiel, aber auch zu Brainpool und anderen Produzenten. Die ARD arbeitete damals fast nicht mit Firmen, die fürs kommerzielle Fernsehen tätig waren. Schreiber war aber neugierig: Was habt ihr für Ideen?
Jauch-Vertrag im kleinsten Kreis
Diese dann umzusetzen, ach ja, die ARD ist eben die ARD. Ihre föderale Struktur „ist echt nicht immer die schnellste“, stellte der frisch installierte ARD-Hierarch frustriert fest, und das sei sie, glaubt er, „immer noch nicht, auch wenn sich an vielen Stellen was getan hat“. Die Idee etwa, Günther Jauch 2007 ins Erste zu holen, fand er gar nicht schlecht, nur „skandalös gescheitert“. Den zweiten Vertrag mit RTL-Star Jauch verhandelte und schrieb dann er, im kleinsten Kreis aus maximal vier Personen.
Andrerseits, findet Schreiber, habe diese komplizierte Struktur seines Arbeitgebers auch ihre Stärken: „Neun Augenpaare sehen mehr als eins.“ Das mache sich zum Beispiel auf dem Sendeplatz am späten Donnerstagabend bemerkbar. „Die Carolin Kebekus Show“, „Extra3“, Dieter Nuhr, „Inas Nacht“ – „wir haben an der Stelle keine Mono-Kultur“, sagt der ehemalige Unterhaltungschef mit einem Seitenhieb aufs ZDF und seine „one face, one place“-Strategie.
Was die ARD den Mainzern außerdem voraus hat: diesen einen Samstagabend im Mai, an dem Europa in all seiner Buntheit im selben Moment, von Island bis hinter den Ural, von Tromsö bis Tel Aviv zusammenkommt.
Zu fulminanter Höhe (lovely Lena und Deutscher Fernsehpreis!) trieb Schreiber den ESC. Es gab aber ehrlicherweise noch mehr Tiefen. Die „Zero Points for Germany“-Last ist er nun los. Jetzt dürfen andere ganz andere Ideen umsetzen. Den ESC 2022 in Turin werde er so schauen, wie er ihn sehr lange nicht gesehen habe, sagt Schreiber: vor dem Bildschirm. Nichts werde er vermissen, denn jetzt habe er ja „so viele andere, freundlich formuliert: Herausforderungen“.
Vor der eigenen Haustür, auf dem Filmfest Hamburg, das heute zu Ende geht, stellte der Degeto-Chef gerade erst die neuen Serien-Highlights der ARD vor, die noch seine Vorgängerin und heutige ARD-Programmdirektorin, Christine Strobl, auf den Weg gebracht hat. Wenn er allein an das Weihnachtsprogramm denke, an „Eldorado KaDeWe – Jetzt ist unsere Zeit“ von Julia von Heinz, kommt Schreiber regelrecht ins Schwärmen: „Das ist etwas sehr Besonderes geworden.“ In „eindrucksvollem Tempo“ würden gerade „sehr, sehr viele Projekte“ bewegt und dafür Budget umgeschichtet. Mehr Serien, dafür weniger Einzelstücke am Donnerstag und am Freitag, das ist die eine von Schreibers Lösungen für die Probleme der ARD. Die anderen: mehr internationale Koproduktionen und mehr Produktionen für die ARD-Mediathek – damit diese „als eigenständige Streaming-Plattform wahrgenommen wird und nicht bloß als großer Videorekorder“.
Denn das hat auch der Degeto-Chef glasklar erkannt: „Für uns als System geht es wirklich um die Existenz. Wenn wir wollen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk weiter stark ist und nicht zahnlos, wie es die BBC in ihrer politischen Berichterstattung inzwischen geworden ist, dann müssen wir unser Programm so machen, dass die Menschen, vor allem die Jüngeren, es auch schauen. Wenn sie es nicht schauen, gibt es keinen Grund, uns zu bezahlen. So einfach ist das.“ Wobei der Degeto-Chef, das gibt er offen zu, nicht weiß, wie „rasant“ die neuen ARD-Serien „zu einer veränderten Wahrnehmung oder Erweiterung unseres Images bei der jüngeren Zielgruppe beitragen“.
Ein Vertreter dieser händeringend gesuchten Jungen und Jüngeren lebt bei ihm in der Familie. An seinem zehnjährigen Sohn sehe er, wie er Medien nutzt, was ihn interessiert und womit man ihn kriegen kann. Und wer hat ihn, den späten Vater, durch die Tür zur Degeto gekriegt?
Das ist noch zu frisch. Dazu möchte sich Schreiber nicht äußern. Dass er sich gut gewappnet fühlt für den Führungsjob in diesem „kleinen Laden, aber mit hochqualifizierten Leuten“, daran lässt er in keiner Sekunde Zweifel aufkommen. Auch wenn er noch „Programmplanung non-linear“ lernen müsse. Ein erstes Learning: „Verlässlichkeit ist hier mindestens ebenso wichtig wie im Linearen.“ Und damit kennt er sich ja wohl aus, im Fiktionalen wie im Non-Fiktionalen.
Haben wir eigentlich schon sein „großes Initiationserlebnis mit der Fiktion“ erwähnt?
Es war am 14. Juli 2005, als er Bernd Eichinger in einem Münchner Biergarten traf. Stefan Aust hatte vermittelt und war auch dabei. Spiegel TV, der ARD-Gegner! Schreiber musste erstmal die Erlaubnis einholen, mit Aust überhaupt zu sprechen. Gemeinsam wollten sie den Deutschen Herbst ins Fernsehen bringen, mit einer großen Dokumentation in 2 x 90 Minuten, und Eichinger, der im Jahr zuvor den „Untergang“ gemacht hatte, sollte für sie die Bilder finden für die Momente, von denen es keine Bilder gab. Doch Eichinger sagte klar Nein. Drei Jahre später wirkte er bei „Der Baader-Meinhof-Komplex“ mit. Ein Kinofilm. Aber an jenem Julitag passierte noch etwas anderes.
„Das Beste, das Einzigartige war“, erzählt Schreiber Feuer und Flamme, „dass Bernd nach dem Mittagessen sagte: Komm mal mit, ich zeig dir das Set vom ,Parfüm‘.“ Er bekam einen Hocker neben den von Tom Tykwer gestellt und schaute drei Stunden, „still wie eine Maus“, dem Dreh mit Dustin Hofmann und Ben Whishaw zu . . .
Oh, wir schweifen schon wieder ab, pardon. Abspann.
Mit Christine Strobl sitzt Thomas Schreiber neuerdings im „ARD Diversity Board“. Ein neues Gremium. Schon wieder ein Gremium. Das erste Treffen fand bereits statt. Das Ziel dieser Arbeitsrunde formuliert Schreiber so: „Wir müssen in jeder Hinsicht bunter werden. In unseren Geschichten und mit den Menschen, die bei uns und mit uns arbeiten.“ Dass das kein Thema sei, das er erfunden habe, sei klar. Wohl wahr. Schreiber will es jetzt intensivieren. Mehr Austausch mit den Kreativen, mehr Sensibilisierung.
Auf dass die Suppe bald allen schmeckt. Wohl bekomms!