Andreas Bartls Fürsorge ist überwältigend. Sie schließt sogar Journalistinnen ein, die 600 Kilometer entfernt von ihm leben und tatsächlich noch ungeimpft sind, obwohl sie doch als systemrelevant gelten, zumindest samstags auf DWDL. Gerade komme er von seiner Impfärztin zurück, informiert Bartl also an diesem Donnerstagmittag, es sei noch so viel Stoff übrig wegen lauter Terminabsagen, wie wär’s? Wirklich sehr lieb, geht grad nicht, der weite Weg und so. Aber „Fürsorge“, das ist ein verdammt gutes Stichwort für folgende Frage:
Wie gut sorgt Andreas Bartl für jene Menschen, mit denen er Fernsehen macht auf RTLzwei?
Geografisch gesehen tut er das – herrje, noch immer Pandemie! – aus der Distanz. Das Chefbüro in der Senderzentrale in München-Grünwald, die sie intern "Alcatraz, nur in schön" nennen, hat der Hausherr vorübergehend gegen sein Feriendomizil im Chiemgau eingetauscht. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, das von der Decke baumelnde Windspiel in Türkis beruhigt die Sinne – einen Sender zu führen, kann so idyllisch sein. Wobei: So übel ist das, was Bartls Vor-Vorgänger auf dem Topmanagementposten von RTLzwei, der Österreicher Josef Andorfer, einst nach den Prinzipien des Feng Shui für zwölf Millionen Euro errichten ließ, nun auch wieder nicht.
Dort, wo früher Stuntmen auf dem Bavaria-Filmgelände ihre Künste zeigten, steht die aufwändige Konstruktion aus Stahl und Glas mit ihrer zellenartigen Zimmeranordnung. Im Foyer plätschert ein Bächlein, und auf der Grünfläche nebenan summen und brummen die Bienen so fleißig, dass sich die 250 bei RTLzwei beschäftigten Bienenretterinnen und Bienenretter an Weihnachten mit Honig der eigenen Hausmarke beglücken können. Nimmt man die Feng-Shui-Numerologie übrigens ernst, dann wohnen am Grünwalder Lil-Dagover-Ring Nr. 1 „Pioniere und Erfinder“, in deren Haus „Kreativität und Ideen“ wachsen können. Auch umgesetzt würden die Ideen dort, heißt es weiter, allerdings: Es werde „selten etwas zu Ende geführt“, daher "bleibt der Erfolg meist aus" . . . Blabla.
Am 1. Juni jährte sich zum siebten Mal, dass Andreas Bartl die Führung von RTLzwei und des sendereigenen Vermarkters El Cartel Media übernahm, nach vorheriger zweijähriger Selbstständigkeit. Mit Bartl Media habe er "da etwas versucht", aber es gab "beträchtliche Hürden", weshalb sein Unternehmen "nicht in die Mediengeschichte" eingehen werde, lacht Bartl. Da traf es sich gut, dass eines Morgens im Jahr 2014 Anke Schäferkordt anrief, damals die bestimmende Fernsehfrau und viel beschäftigte Kümmerin der RTL Group in Luxembourg: Du, Andreas, magst du in Grünwald den Job von Jochen Starke übernehmen?
Ja, genau so war es, bestätigt Bartl überraschenderweise und schiebt sogleich eine Anekdote hinterher, von denen er so viele auf Lager hat. Ist ja auch viel passiert in den bald 59 Lebensjahren.
Diese eine Schnurre geht so, dass er beim Frühstücken derart engagiert in ein Gespräch verwickelt war, dass er die Anruferin abblockte und baldigen Rückruf versprach. Was für ein tollkühner Stunt! Zum Glück wusste die Anke, was sie an ihrem Andreas hatte. Denn die beiden haben eine gemeinsame Geschichte, wenn auch in verschiedenen Fernsehkonzernen. Als sie Senderchefin bei Vox war und er Senderchef bei Kabel 1, waren sie in Bartls Worten "immer die Kleinen, die sich an der Tischkante bei den Großen hochzogen und zuschauen durften". So was verbindet. "Anke wusste: Das, was ich am liebsten mache, ist einen Sender zu führen."
Dass Bartl RTLzwei bereits 2005 hätte führen können als Nachfolger des spektakulär geschassten Josef Andorfer, ist Nähkästchenwissen, das er heute nicht mehr dementiert. Das parallele Angebot aus München-Unterföhring, wo seine Medienkarriere 1991 als Redakteur in der Spielfilmabteilung von ProSieben begann, war schlicht attraktiver: endlich bei den Großen sitzen! Und so wurde Bartl nicht nur ProSieben-Chef, sondern stieg 2008 zum Vorstand Fernsehen bei der ProSiebenSat.1 Media AG auf, inkl. zeitweiliger Zusatzaufgabe als Geschäftsführer von Sat.1. Ein Kraftakt, von dem er nicht weiß, "ob ich es noch einmal machen würde". Muss er ja nicht. Die "Mission alte Stärke" übernimmt jetzt Daniel Rosemann. Und da "der Daniel ein Guter ist", kann es ihm laut Bartl auch gelingen, zwei Sender zeitgleich zu führen.
Das Ende seiner ProSiebenSat.1-Karriere? Kam nach mehr als 20 Jahren im Konzern, wo die Spielfläche zwar deutlich größer ist als bei einem "Indipendant" (Bartl-Slang) wie RTLzwei mit einer seit Jahr und Tag stabilen Gesellschafterkonstellation aus RTL, Bauer, Burda und Leonine. Aber das Match wird eben auch härter gespielt. Er habe sich damals "ein bisschen aufgearbeitet", bilanziert Bartl. Es ging auseinander, wenn auch seinerseits nicht ganz so "auf eigenen Wunsch", wie es diese übliche Pressemitteilungsphrase suggeriert. Wer ihn heute darauf anspricht, Herr Bartl, Sie sind schon so lange dabei, Sie sind ja bestimmt viel herumgekommen, dann antwortet der für seine Selbstironie zurecht so Gerühmte: Ja, mei, von Unterföhring nach Grünwald. Also 30 Kilometer.
Dass Bartl den in München typischen Lückenfüller "mei" konsequent in seinen Redefluss einbaut, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ursprünglich aus einer ganz anderen Ecke als der oberbayerischen stammt, nämlich aus der kurpfälzischen Residenzstadt Heidelberg. Er wurde also in die Nachbarschaft der heute sehr berühmten Pfälzerin Daniela Katzenberger geboren, freilich ein paar Jahre früher, genau genommen 24 Jahre früher. Man hört es. Die Kenntnis des Singsangs in der Metropolregion Rhein-Neckar hat einen bestechenden Vorteil: In den hauseigenen Doku-Soaps mit dem sehr blond-sympathischen Reality-Star versteht der RTLzwei-Babo jedes Wort des Katzen-Clans, sobald in den Dialekt umgeschwenkt wird, und zwar ohne Untertitel!
Er sei "sehr froh", dass er die Katze 2015 von Vox zu RTLzwei lotsen konnte, sagt Bartl: "Das war eine glückliche Fügung." In der Tat, sie fügt sich prächtig ein in die Riege der "friends forever", neben die Geissens und die Wollnys, sprich jenes Personal, das aus RTLzwei den "Reality-Sender Nr. 1" macht, wie sich die Grünwalder mit stolzgeschwellter Brust selber rühmen. Mag die Eigenschreibweise seit dem Gründungsjahr 1993 gewechselt haben, von "RTL 2" über "RTL II" zu aktuell "RTL ZWEI" – was die Basisausrichtung des Programms betrifft, zeigt man sich weniger experimentierfreudig, seit Josef Andorfer den Kanal um die Jahrtausendwende auf die Schiene "Reality-TV" setzte.
"Der Josef verdient meine absolute Bewunderung", sagt Bartl, "allein schon dafür, dass er die mutige Entscheidung traf, ,Big Brother‘ zu machen. Das war ein Game Changer, wie es ihn im Fernsehen lange nicht mehr gegeben hatte." Wer weiß, vielleicht wird man Andorfers Nach-Nachfolger einmal Ähnliches in Bezug auf "Love Island" nachsagen?
Das RTLzwei-Mantra "Wir lieben Reality" hat bei dieser Balz-Show unter mediterraner Sonne jedenfalls fast schon suchtartige Züge bekommen, seit Andreas Bartl die Dosis verdoppeln ließ. Zweimal im Jahr wird jetzt gebalzt, im Spätsommer geht’s wieder los, aber wie?
"Wir wollen lieber mit unseren Protagonisten lachen als über sie"
Andreas Bartl, Senderchef RTLzwei
Sat.1 ohne "Promis unter Palmen" bald im Büßergewand und RTL ohne Bohlen, aber mit mutmaßlich weniger Alkohol im "Sommerhaus der Stars" – heißt das im Umkehrschluss, wenn alle anderen ein wenig seriöser werden wollen, dass RTLzwei härter wird? Das wäre an sich keine dumme Strategie, aber Bartls "Nein!" eines Geschäftsmanns, der er ja in erster Linie ist, klingt unmissverständlich. Das sei "kein Weg", weil "unwirtschaftlich": "Werbekunden haben keine Lust, ein Format zu buchen, wo sich Protagonisten nur anschreien. Und auch unsere Haltung als Sender steht nicht dafür, den Turbo aufzudrehen und ständig Konflikte zu schüren. Wir wollen lieber mit unseren Protagonisten lachen als über sie." In letzter Konsequenz bedeutet das: möglichst keine promillehaltigen Getränke am Set bei "Love Island". "Viele unserer Protagonisten trinken von sich aus nichts", weiß Bartl, "sie sollen sich verlieben und aneinander berauschen, nicht am Alkohol."
Aber Moment, wie gut geht das eigentlich zusammen: ein TV-Veteran, der das für RTLzwei werbemarktrelevante Alter längst überschritten hat, an der Spitze eines der letzten jungen linearen Fernsehangebote?
"Das geht nur zusammen, wenn ich meine Programmverantwortlichen ihren Job machen lasse und nicht den Ehrgeiz habe, alleine Programmentscheidungen zu treffen", antwortet Bartl. Auch wenn er schon sehr lange dabei sei, maße er sich nicht an, genau zu wissen, ob etwas ein Hit wird oder nicht. "Ich lasse meine Leute machen und biete mich als Sparringspartner und Mentor an." Und so kommt er ins Erzählen über die besondere "Unternehmenskultur", die sie bei RTLzwei pflegen. Dass sie "Eigenverantwortung" GROSSSCHREIBEN und sich dafür schon mal geistliche Unterstützung holen. Richtig gelesen: nicht "geistige", sondern die eines ehemaligen benediktinischen Priors.
In Anselm Bilgris "Akademie der Muße" lernen Bartls Führungskräfte, was "Ora et labora" in der Fernsehpraxis bedeutet: nicht arbeiten, bis man umkippt, sondern sich auch mentale Erholungsphasen gönnen. Denn am Ende des Tages geht es dem fürsorglichen Senderchef "selbstverständlich nicht nur darum, motivierte Mitarbeiter zu haben, sondern Erfolg im Unternehmen". Langjährige Mitarbeiter bezeichnen die Seminare zur stillen Einkehr im Kloster Andechs durchaus als "bewusstseinserweiternd" und damit meinen sie wohl eher nicht das Klosterbier, das hoch überm Ammersee bei München gebraut wird.
So oder so, dieses spezielle Bartl’sche Care-Paket ist denjenigen nicht vergönnt, die ja quasi auch eine tragende Säule von RTLzwei sind, weil die Geschichten und Bilder, die sie von sich preisgeben in Formaten wie "Hartz und herzlich" oder "Armes Deutschland", ordentlich einzahlen in die Kasse des Unternehmens. Zwischenzeitlich gigantische Einschaltquoten von zehn und mehr Prozent erreichten die so genannten "Sozialreportagen", die bei RTLzwei prägende Programmfarbe sind. Prägend insofern auch, weil sie das Schmuddel-Image des Senders aufrechthalten.
Die Exzesse im von kritischen Geistern "Armutsporno" genannten Genre werden gerade wieder breit diskutiert, nachdem der Party-Sänger Ikke Hüftgold die Produktionsumstände der Reality-Soap "Plötzlich arm, plötzlich reich" auf Sat.1 publik gemacht hatte. Die Medienöffentlichkeit ist empört, die Medienaufsicht besorgt. Und was sagt Andreas Bartl dazu?
"Es gibt Grenzen, die man beim Fernsehmachen nicht überschreiten darf." Die pauschale Verurteilung solcher Formate findet er aber nicht richtig: "Auch wenn ich verstehe, dass die Empörung groß ist, waren da nicht die per se gedanken- und gewissenlosen Menschen am Werk, als die sie dargestellt wurden. Es war ein Fehler, den man als solchen betrachten sollte." Als "Lehrmeister" will er sich klugerweise nicht aufschwingen, er könne ja nicht ausschließen, dass es über die Jahre, in denen sie Reality-Fernsehen aus den Milieus in Rostock Groß Klein oder den Mannheimer Benz-Baracken zeigen, "auch schon mal etwas zu sehen gab, was wir heute nicht mehr zeigen würden". Ob Dreharbeiten zu verantworten seien oder nicht, müsse "immer wieder neu beurteilt werden": "Völlig klar, dass man solche Formate immer gut monitoren und sich permanent selber hinterfragen muss." Insofern habe die Diskussion um "Plötzlich arm, plötzlich reich" letztlich "etwas Positives, weil sie die Branche noch einmal aufgerüttelt hat".
Tja, interessant, wie die gut eingeübten Mechanismen des Positive Thinking hier greifen. Und jetzt ein Cut. Hart, aber herzlich.
Am Montag beginnen die Screenforce Days, die Messe der Fernsehneuigkeiten und, auch das, der Fernsehheiterkeiten. Andreas Bartl und sein Team sind bekannt dafür, für bestes Entertainment zu sorgen. Bleibt zu hoffen, dass mögliche Impf-Auswirkungen bei ihm (jeder zehnte Impfling liege mit grippeähnlichen Symptomen flach, hatte Bartl gewarnt!) ausbleiben. Wäre schon schade, wenn er die Gattungsfahne nicht volle Kraft hochhalten könnte. Mit dem Titel einer RTLzwei-Neuheit gesprochen: "Let’s Love" an die Grünwalder "Hütte voller Liebe"!