Wer mit Nataly Kudiabor per Video telefoniert, kommt nicht umhin, sich mit den Augen neugierig an der Collage hinter ihrer rechten Schulter festzusaugen, die selbstverständlich überhaupt nicht zufällig auf dem Sideboard vor der rotgetünchten Wand ihrer Berliner Wohnung herumsteht. Als Reisen noch unbeschwert möglich war, entdeckte Kudiabor das Kunstwerk in einem Stockholmer Café und bestellte es nach. Es trägt den Titel „Sisterhood Saints“ und zeigt die Köpfe von Erykha Badu, Yoko Ono, Frida Kahlo, „Star Wars“-Prinzessin Leila, Simone de Beauvoir, Grace Jones und vielen anderen imposanten Frauen, die mit ihrem Mut, ihren Worten und Taten die schwedische Illustratorin, ach was, jederfrau inspirieren. Die Poster-Besitzerin mit eingeschlossen.
Sich an solch berühmten weiblichen Persönlichkeiten optisch zu stärken, ist nicht die schlechteste Deko-Idee. Aber verlassen wir an dieser Stelle das verlockende Thema female empowerment und widmen uns einem anderen: Männern. Genau genommen vier schwulen Männern in einer TV-Serie.
In der ARD-Mediathek startet am kommenden Freitag „All You Need“. Es ist nicht nur das erste Serienprojekt, das in Nataly Kudiabors Verantwortung entstanden ist, seit sie vor knapp zwei Jahren als Produzentin zur UFA Fiction stieß. Das Setting darf man, insbesondere für öffentlich-rechtliche Verhältnisse, als revolutionär bezeichnen, denn die Hauptfigur Vince ist homosexuell und schwarz. So viel Diversität in Serie traute sich bislang nur TV Now zu mit „Prince Charming“, wobei es sich da um ein Reality-Format handelt.
In der ARD-Fiktion gehören zum engsten Freundeskreis von Vince, der tags studiert und nachts durch die Hauptstadtclubs schwärmt, der geheimnisvolle Robbie, der zum Spießer mutierende Webdesigner Levo und der erst spät geoutete Familienvater Tom. Beatles-Fans würden den Serientitel wahrscheinlich reflexhaft ergänzen: „All You Need Is Love.“ Und „Love“ trifft einen Teil der Story sogar ziemlich gut: Jeder Topf sucht hier sein Deckelchen. Auf dieser Suche, so viel Klischee muss sein, findet statt, was Levos Schwester in der ersten Folge so schön mit dem Dreiklang „feiern, flirten, vögeln“ umschreibt.
Wenn ja, hätte Kudiabor ein Problem gehabt: „Macht man eine Serie mit vier schwulen Protagonisten, muss man sie authentisch erzählen, sodass sie in erster Linie in der Community verstanden und geglaubt wird“, sagt sie, „man darf nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen.“ Die forcierte Mediathek-Strategie der ARD kam der Produzentin gerade recht. „Dort haben wir die Möglichkeit, ohne die Anforderungen eines linearen Ausstrahlungsplatzes zu erzählen.“ Für einen „Streamer“ zu produzieren, sieht Kudiabor daher „eher als einen Bonus“.
Dass sich „All You Need“ überdies hervorragend in die neue Strategie der UFA Fiction einfügt, ist sicher alles andere als ein Malus. Der Produktionsriese aus Potsdam will künftig die Vielfalt der Gesellschaft noch besser auf dem Bildschirm abbilden. Eine Art Code of Diversity wurde im vorigen Herbst entworfen. An den Resultaten will man sich in einigen Jahren messen lassen. Die Serie über das Männerquartett sei allerdings „nicht unter der Flagge ,Diversität‘ entstanden“, betont Kudiabor. Sie ist der Meinung, Diversität müsse „ganz selbstverständlich in das Herz jeder Stoffentwicklung rutschen“: „Nur so können wir unsere Gesellschaft abbilden, wie sie schon längst ist.“ Nichts liegt ihr dabei ferner als „on the nose“ zu belehren. „Ich will in erster Linie gute Unterhaltung machen.“
Im Fall von „All You Need“ hat Kudiabor speziell die Millenials als Publikum im Blick. Liebe, Verlassenwerden, wie treffe ich den Richtigen, was will ich mit meinem Leben anfangen – all diese in der Serie verhandelten Themen seien „universell“ und bewegten die Generation der um die Jahrtausendwende Geborenen. Sie selbst, und da tritt man ihr bestimmt nicht zu nahe, ist mit all dem schon weitgehend durch.
Ein weibliches und ein männliches Pubertier zieht sie groß. Zwischen Homeschooling und Produzentenjob muss sie derzeit lavieren. Durchtanzte Nächte, wie sie Vince erlebt, hach, das liegt bei ihr auch ohne Pandemie schon eine Weile zurück.
In den 1990ern kam sie aus dem heimischen Rheinland in die Großstadt Berlin, die damals noch nicht Hauptstadt war, um an der FU Publizistik zu studieren. Ein Aushang am Schwarzen Brett führte sie zum Praktikum im Lektorat bei RTL. Bald darauf wurde sie Redakteurin von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, dieser never ever ending story aus dem Hause UFA, die unter Deutschlands täglichen Serien inzwischen das Wanne-Eickel-Oma-Alter erreicht hat. In Ed Prylinski, dem Daily-Soap-Pionier der damals noch Grundy UFA genannten Firma, fand die Nachwuchsredakteurin einen frühen Förderer, der ihr Vertrauen gab für den Wechsel auf die Producer-Seite. Das tat der gebürtige Australier so nachhaltig, dass sich Kudiabor nach Stationen bei Ziegler-Film und über 10 Jahren bei der ndf als Produzentin und Head of Development schließlich mit der Good Friends selbstständig machte.
„Meine Eltern haben am Anfang nicht wirklich verstanden, was ich da nun beruflich mache und warum man damit seriös Geld verdienen kann“, erzählt Kudiabor von ihrem Einstieg „in die Medien“. Sie kommt aus einem Akademikerhaushalt: die Mutter Chemielaborantin, der Vater Diplom-Ingenieur mit Wurzeln in Ghana. Sonntage sind in ihrer Erinnerung verbunden mit Musik von Bach, den ihr Vater verehrte. Ihre Passion fand sie im Geschichtenerzählen. Dass es schlussendlich fiktive Geschichten geworden sind, die sie mit anstoßen und entwickeln könne, empfindet sie „immer noch als großes Glück“. Gerade jetzt, in dieser wild-verrückten Streaming-Zeit.
Wenn Nataly Kudiabor von den „Streamern“ erzählt, wird’s geradezu euphorisch. Die Aufbruchstimmung, ja Goldgräberstimmung, die seit Markteintritt von Netflix & Co. herrscht, erinnert sie an ihre beruflichen Anfangsjahre, als das immer stärker werdende Privatfernsehen Dinge „lawinenartig“ veränderte. Auch sie sieht wie viele andere Medienschaffende in der Pandemie einen „Brandbeschleuniger“: „Wir produzieren nicht mehr alleine für unseren deutschen Markt. Trotzdem werden deutsche Geschichten und Perspektiven von uns erwartet, die dann im besten Fall international ,reisen‘.“
Auf gute Reise hat sich Kudiabors eingangs erwähntes Glanzstück „Arthurs Gesetz“ gemacht, eine, wie sie findet, „urdeutsche Geschichte“, die im fiktiven Biedermeiernest Klein Biddenbach angesiedelt ist. Sie läuft nun beim US-Anbieter HBO Max. Noch „lange nicht ausgeschöpft“ sind ihrer Einschätzung nach die nun auch international so gefragten „deutschen Perspektiven“. Menschen aus der LGBTGI+ Community, Menschen mit internationaler Geschichte, wie sie selbst eine hat, Menschen mit Behinderungen, überhaupt bislang marginalisierte Gruppen – sie alle brächten eine „German Experience Plus“ mit und bereicherten die bisherigen Erzählwelten. „Es gibt noch sehr viel zu entdecken“, sagt Kudiabor im Brustton der Überzeugung. Und das gilt nicht zuletzt für ihre Wahlheimat.
Kaum vorstellbar, dass es in Kudiabors Leben eine Zeit gab, in der sie sich für nichts mehr begeistern konnte. Ihre Depression vor 20 Jahren nannte sie damals aber lieber Burn-out: „Ich wusste es nicht besser. Und es war vermittelbarer: für mein Umfeld und besonders auch für mich selbst. Denn es ist immer noch ein Stigma in unserer Gesellschaft.“ Noch immer werde „viel zu wenig“ über Depression geredet. Sehr berührt habe sie deshalb letztens bei „Chez Krömer“ im rbb „das schonungslos offene Gespräch ganz ohne doppelten Boden“ zwischen Gastgeber Kurt Krömer und Torsten Sträter.
Sie selbst arbeitet daran, dass diese Krankheit ihr Stigma verliert. In „The Mopes“, noch im Mai auf TNT Comedy zu sehen, spielt Nora Tschirner eine mittelgradige Depression, die das Leben eines Singer-Songwriters auf den Kopf stellt. Monika ist quasi der „Ghost“ von Mat, deren „Nachrichten“ nur Mat versteht. Dass es bei diesem so ernsten und wichtigen Thema so zutiefst komisch zugeht, dafür spricht allein schon der weibliche Hauptcast und dass Kudiabors kreative Mitstreiter aus „Arthurs Gesetz“, Anke Greifeneder (TNT) und Regisseur Christian Zübert, wieder an Bord sind.
„Unser Ansatz war“, erklärt Kudiabor: „Wenn wir mit der Serie die Hemmschwelle senken können und auch nur eine Person, die sie schaut, plötzlich versteht, ich bin nicht allein, ich habe eine Depression und ich suche mir jetzt Hilfe, dann hätten wir viel erreicht.“
„The Mopes“, „All You Need“, „Marzahn, mon Amour“ – es sind Erzählwelten, auf die sich Kudiabor in dieser Vielzahl und Vielfalt wohl eher nicht hätte einlassen können, wäre sie bei der Good Friends geblieben. Nach 20 Jahren in die Firma zurückzukehren, wo ihre Karriere begann, begreift sie deshalb als große Chance: „Ich habe bei der UFA das Privileg, mit einem eigenen kleinen Team viele verschiedene Projekte für verschiedene Anbieter gleichzeitig nach vorne zu bringen. Das ist, wenn man für eine kleinere Firma arbeitet, in der Weise allein finanziell schon nicht möglich.“
Wenn man so will, hat Nataly Kudiabor den Slogan eines schwedischen Möbelhauses perfekt für sich umgesetzt: Entdecke die Möglichkeiten! Mit ihrer Lebenserfahrung, ihrer eigenen „German Experience Plus“, setzt sie nun an, bei Autoren, Regisseuren, Kameraleuten, Schauspielerin, wem auch immer, Horizonte zu öffnen und für diversere Perspektiven zu sensibilisieren. Den amerikanischen Markt verfolgt sie dabei sehr intensiv. Fünf bis sieben Jahre, schätzt sie, hinke die hiesige TV-Branche dem hinterher, was in den USA schon eine Selbstverständlichkeit sei.
Insbesondere was Shonda Rhimes, die Produzentin von „Grey’s Anatomy“ und „Bridgerton“, von Anbeginn im Storytelling und in der Besetzung macht, findet sie „großartig und inspirierend“. Rhimes ist so zu sagen Kudiabors eigene „Sisterhood Saint“. Auf das Poster in ihrer Wohnung gehörte sie unbedingt noch drauf.