Den Kommentar, den einer seiner Kritiker damals zum Antritt bei funk verfasste, hat Florian Hager für diese Nahaufnahme extra noch einmal herausgesucht. Er liest ihn laut vor in einer Mischung aus Stolz und Trotz: „Wenn er nicht wie Markus Lanz bei Wetten, dass…? enden will, sollte er lieber gleich zurücktreten. Die Verwaltung eines Altenheims würde auch keine Disco anbauen, um die Enkel der Bewohner anzulocken.“ Bäm. Das ist fast fünf Jahre her. Die Lichter beim jungen Angebot von ARD und ZDF sind immer noch an. Gründungsgeschäftsführer Florian Hager ist inzwischen weitergezogen. Aus freien Stücken. Zur nächsten scheinbaren Mission Impossible: die ARD-Mediathek vernetflixen.
Ist dieser Mann jetzt die effektivste Geheimwaffe der ARD?
Ende Oktober verabschiedete er sich bei funk, nicht ohne eben besagten Kommentar noch einmal vor seinem Team zum Besten zu geben. Channel Manager und stellvertretender Programmdirektor der ARD lautet Hagers heutige Position. Die Jobanforderung macht ihn zu einer Art Handlungsreisenden für die öffentlich-rechtliche Sache. Neun Landesrundfunkanstalten über die Republik verteilt, da kommen schon ein paar Sammelpunkte bei der Bahn zusammen. Seit Corona hat sich Florian Hager, dessen Lebensmittelpunkt in Mainz liegt, vorgenommen, ausschließlich per Bus und Zug zu reisen. Was dazu führt, dass der vierfache Familienvater, durchaus ans frühe Aufstehen gewöhnt, morgens noch früher raus muss wie an diesem Tag: um fünf in Hamburg los, mittags Termin in Mainz und nachmittags ein erfrischendes Videogespräch mit DWDL.
„Erstaunlich, dass hinter diesem veralteten Konstrukt ein doch für die ARD recht junger und moderner Mensch steckt. Hätte ihn mir anhand des Ergebnisses älter und gesetzter vorgestellt.“
Ein Praktikum beim ZDF verknüpfte ihn mit Gottfried Langenstein, der als Direktor Europäische Satellitenprogramme nicht nur die Partnersender 3sat und arte koordinierte, sondern auch den später – ausgerechnet! – für funk geopferten ZDFdokukanal. Als Langenstein Präsident von arte wurde, zog Hager als sein Referent mit nach Straßburg. Die Chance, diesen Weg im öffentlich-rechtlichen System überhaupt zu gehen, verdanke er Gottfried Langenstein, sagt Hager heute, „er hat sich damals diesen Typ mit dem krummen Lebenslauf ausgesucht, obwohl auf die Stellenanzeige in der Süddeutschen garantiert ein paar 1a-Kandidaten mit dem schöneren Anzug und der saubereren Vita bei ihm vorstellig wurden“.
Wieso eigentlich krumm?
Und so beginnt Florian Hager zu erzählen, wie er, der Bub vom Bauernhof auf der Schwäbischen Alb, nach dem Tod des Vaters erstmal hinaus in die Welt musste. Wie er den ersten Job beim ZDF sausen ließ und in Barcelona landete. Wie er dort einen Musiker aus Afrika kennen lernte und als dessen Tour-Manager den Kontinent im Süden Europas erkundete. Wie er in Lissabon eine Kneipe mit Restaurant pachtete im Trubel der Fußball-EM. Ach ja, davor war die Zeit in Paris, die Erfüllung eines Lebenstraums. Nach dem Dipl.-Ing. Medientechnik und Informatik in Stuttgart erstmal eintauchen in die Welt der Nouvelle Vague. „Wenn man ein Filmfaible hat, gibt es wahrscheinlich keinen cooleren Ort zu studieren als die Sorbonne.“
Zwischen Savoir-vivre und Lektüre der Cahiers du Cinéma spürte der deutsche Student der Filmwissenschaft auch die Härte der Stadt, die Einsamkeit, was ihn für den späteren Beruf stählen sollte. „Ich war ein sehr rastloser Mensch“, erinnert sich Florian Hager, „aber seit dieser Zeit weiß ich, dass ich mich auf mich verlassen kann: Wenn ich die Komfortzone verlasse, ergeben sich neue Chancen. Das habe ich mir damals in Paris bewiesen.“
Oh je, dieses Kopfkino, das diese eine kleine Nachfrage nach dem „krumm“ bei ihm ausgelöst habe. Wo waren wir stehen geblieben, fragt Hager? Retour à Gottfried Langenstein, s'il vous plaît.
Nicht immer mit allem einverstanden
In den fünf Jahren als sein Referent habe er die Struktur der Öffentlich-Rechtlichen in allen Einzelheiten miterleben dürfen, ohne selber Verantwortung zu haben. Er sei zwar nicht immer mit allem einverstanden gewesen, habe aber von dem, wie Langenstein es machte, im Positiven wie im Negativen, „extrem viel lernen“ können. „Das war ein Riesenprivileg“.
Bis zum stellvertretenden Programmdirektor und Hauptabteilungsleiter Programmplanung TV+Web schaffte es Hager bei arte. Den deutsch-französischen Kulturkanal baute er vom TV-Unternehmen in ein multimediales Programmhaus um inkl. seinerzeit innovativster öffentlich-rechtlicher Mediathek. Dass er der nächste Präsident wird, war ausgemacht. Aber Hager zog es vor, funk anzupacken. Ihm werde „relativ schnell langweilig“, erklärt er, „wenn ich etwas durchdrungen habe, möchte ich was Neues machen, weiter gestalten und verändern dürfen.“ Bei arte habe er gemerkt, dass er den nächsten Schritt gehen müsse, „weil es eine Zielgruppe gibt, die wir Öffentlich-Rechtlichen überhaupt nicht mehr erreichen“. Und sein Förderer Langenstein? Fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Die ganz enge Verbindung war vorerst gelöst. Hager schwamm sich frei.
„Er ist einer der wenigen Leute im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die senderpolitisches Talent und Durchsetzungsvermögen haben UND inhaltliche Ahnung.“
Hager lacht und holt aus. Die kürzere Fassung geht so: Bei arte brennen die Leute mit Haut und Haar für ihre Marke, „alle komplett purpose driven und voll all in“. Aber aus Manager-Sicht gibt es „nichts Komplizierteres als arte“: auf deutscher Seite ARD und ZDF, die programmlich mit hineinarbeiten, auf der französischen „eine ganz andere Kultur, auch eine andere Arbeitskultur“. Bei funk ebenso: „eine gewisse Kompliziertheit inbegriffen“. Keine Sau habe darauf gewartet, dass ARD und ZDF was für junge Menschen machen, das Konstrukt war so angelegt, „dass es eigentlich gar nicht funktionieren konnte“. Mal ganz abgesehen vom Culture Clash Youtuber treffen auf Öffentlich-Rechtliche. Das sei „definitiv nicht immer Rock’n’Roll“. Die Fallhöhe war also extrem.
Aber das ist genau das, was Florian Hager reizt. Im Vergleich zu funk und arte sei die ARD-Mediathek zwar „eigentlich total easy“: nur eine Sprache, nur eine Senderfamilie. Trotzdem, die Fallhöhe auch hier immens. Die Wichtigkeit der Aufgabe spiele „noch mal in einer ganz anderen Liga“. Wohl wahr.
Die Disco „ARD Mediathek“ funkelt noch nicht so hell wie die des ZDF. Die Mainzer haben es früher und besser verstanden, ihr Hauptprogramm samt ZDFneo mit dem Streaming-Gedanken zu verknüpfen und die Mediathek von der Videothek für verpasste Sendungen fortzuentwickeln, was ohne weitverzweigten Senderfamilienanhang mit separaten Mediatheken freilich auch einfacher war. Kein einziges böses Wort zur Konkurrenz fällt dem ehemaligen ZDF-Redakteur Florian Hager über die Lippen, der übrigens wegen des Jobs in Mainz seine Doktorarbeit zur 2001 noch futuristischen Frage „Was passiert, wenn Fernsehinhalte auch über Telefonkabel verbreitet werden?“ nie vollendete. Es falle ihm schwer, das Zweite als Gegner zu sehen, man kämpfe doch „um die gleiche Sache“. Und dass eben dieses ZDF sich den von ihm aufgebauten funk-Star Ma Thi Nguyen-Kim schnappte? Ist doch okay! Klar, Hager hätte sie schon liebend gern in der ARD-Mediathek gehabt, ist aber froh, „dass Mai nicht zu Netflix oder wohin anders gegangen ist, sondern im System bleibt“.
Er selbst sei überrascht, dass ihn „das System“ nicht sofort wieder herausgespuckt hat, sagt der „ARD-Mediatheken-Flüsterer“, wie Hager in der Branche tituliert wurde. Denn natürlich sei es nicht so, dass restlos alle in der ARD jetzt Feuer und Flamme für seine Strategie sind. Als er aus dieser Zwischenwelt Web und TV zur Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, kurz ARD, kam, fand er den Glauben vor, wir sind ja so vielfältig, neun Anstalten, ganz arg viele Inhalte, die schmeißen wir einfach auf einen Haufen und dann ist das schon ein supertolles Mediatheken-Angebot – nein, so geht’s nicht!
Und jetzt bewegt sie sich doch, die ARD. Sehr viel sogar, aus Hagers Sicht: „Letztlich haben alle verstanden, dass das Internet nicht mehr weggeht und die ARD aufholen muss, was sie verschlafen hat.“ Einen strukturierten und diversen Content-Katalog aufzubauen, brauche indes Zeit. Aber wenn man die richtigen Leute anstupse, „gibt es einen Domino-Effekt“. Die Wucht, die dadurch erzeugt werde, da ist sich Florian Hager sicher, „werden wir spätestens 2022 sehen“. Sein Wort in Fernsehgottes Ohr.
Die Ideen sprudeln aus ihm, das „Kopfkino“ ist wieder in Gang. Kondition und Konzentration lassen aber langsam nach. Höchste Zeit für das Ende dieses Gesprächs. Florian Hagers Arbeitstag ist ja auch noch nicht rum. Die Christine wartet schon auf Rückruf.
Heute in zwei Wochen folgt Christine Strobl ganz offiziell Volker Herres als Programmdirektorin der ARD nach. Mit ihrem Stellvertreter steht sie schon seit einem halben Jahr in fast täglichem Kontakt. Die „Chemie“ stimme, betont Florian Hager, auch zwischen dem dann neuen ARD-Chefredakteur Oliver Köhr. Strobl in Heilbronn, Hager in Mainz, Köhr in Berlin, das Team Programmdirektion in München – wurde schon erwähnt, dass die ARD ein arg kompliziertes Konstrukt ist?