Die Trauerzeit für mehr als sieben Millionen Menschen, einschließlich jenen, die beim ZDF arbeiten, hat Donnerstagabend kurz vor zehn begonnen. Der Bergdoktor verabschiedete sich mit nachdenklichem Fernblick in die Staffelpause, nicht ohne mal wieder Frauenherzen und Zuschauerrekorde zu brechen. Keine andere Serie der alten Tante vom Lerchenberg erreicht mit einem inzwischen Ü50-Titelhelden so viele U50er wie dieser promovierte Martin aus Tirol. Bis er das nächste Mal, dann im 15. Jahr seines TV-Arzt-Wirkens, sanft den Schallkopf über den nackten Bauch einer Patientin streicht und, Herrschaftszeiten!, endlich seiner Anne den Ring an den Finger steckt (oder doch Franziska?), wird ein Weihnachtsfest vorübergehen in diesem medizinisch wie romantisch so trostlosen Land. Was für ein Graus! Einerseits.
Andererseits sorgt man sich ja schon: Wie kommt der Schauspieler Hans Sigl alias Dr. Martin Gruber aus dieser "Bergdoktor"-Erfolgsnummer jemals wieder raus? Will er das überhaupt?
Für ihn werde es "immer noch schöner", pariert Hans Sigl routiniert, aber nicht gelangweilt. Die Geschichte seines Bergdoktors sei "noch nicht auserzählt". Er habe immer noch "extrem Bock". Und überhaupt, es sei doch eine Klischeevorstellung, dass Schauspieler, die sich lange an eine Serie binden, unglücklich seien, weil sie nur eine Facette zeigen könnten. "Ich bin mit dem Bergdoktor sehr glücklich, ich kann viele Facetten zeigen." So spricht der Mann, der sich in seinem 52. Lebensjahr befindet und von sich behauptet, gelassener geworden zu sein: "Ich bin erfüllt von dem, was ich tue."
Der "Bergdoktor" als Guilty Pleasure
Kurze Rückblende: 2008 steigt der aus der ZDF-Serie "Soko Kitzbühel" bekannte Schauspieler und Kabarettist Hans Sigl, 1969 geboren in der Steiermark, in die Neuauflage des "Bergdoktors" ein. Im Original von 1992 auf Sat.1 arbeitete sich noch ein Dr. Burgner durch die Tiroler Bergwelt. Heute unvorstellbar: gänzlich ohne Smartphone. Bei Dr. Gruber ist es das wichtigste Requisit neben besagten Schallköpfen und dem grasgrünen W123. Sobald es klingelt, braust er los, Leben retten. Ein weiterer USP der Serie: die Familienverhältnisse. Wer wen aktuell liebt oder mal geliebt hat und jetzt nicht mehr liebt, aber womöglich bald wieder liebt, ach, das ist kompliziert. Das ist modern. Das ist Feminismus. Das hat sogar Alice Schwarzer gesagt.
Boah, da war aber was los im Blätterwald, als Deutschlands oberste Frauenbeauftragte in einer Spielshow beiläufig fallen ließ, dass sie regelmäßig den "Bergdoktor" schaut. Man schaut ihn nicht. Man gibt es jedenfalls nicht zu. Die Serie gilt als guilty pleasure in einem Land, das zwischen der niederen Unterhaltung und der hohen Intellektualität so stark trennt wie nirgendwo anders. Der "Doc" hat dazu schon öfter was gesagt und in diesem Zusammenhang auch das hübsche Bonmot vom "Alpenporno" gebracht. Aber bitte schön, jetzt noch einmal hier an dieser Stelle: Hans Sigl findet es "bezeichnend, dass die Menschen ein Problem damit haben, davon zu erzählen, dass sie sich eine Feel-Good-Serie um Viertel nach acht im ZDF anschauen, wo es emotional hoch hergeht. Lieber erzählen sie von dieser und jener krassen Netflix-Serie, als über die eigene Emotionalität zu sprechen. Wenn sich nun wieder mehr trauen einzugestehen, ach wie schön, ich mag diese Familienserie, dann hat der Bergdoktor für die Seele der Zuschauer etwas erreicht".
Ja, vielleicht. Dann wackelt plötzlich der Bus, in dem er sitzt. Haha, die Kollegen, immer lustig drauf, schaukeln das Ding. Wie soll er das denn erklären, wenn er gerade mit Video telefoniert, ruft der Spaßvogel hinaus. Wenig später klopft es an der Tür, "Action"-Time. Sigl muss mal wieder los, aber er ist bereit, am Abend weiter zu reden. Salopp gesagt hat er eigentlich immer Lust zu quatschen. Was er neuerdings auch auf Instagram tut.
Insta-Talk mit Hans Sigl
Seit dem ersten Lockdown gilt: Wer nicht live geht, wer nicht talkt, der findet nicht statt. Hans Sigl zieht das seit einem Jahr durch. Mehr als 50 dieser Podcasts mit Bild sind bisher zustande gekommen. Es sind Gespräche auf Augenhöhe, die, je länger man ihnen zuhört, überraschende Wendungen nehmen und Tiefe zulassen. Mit Michael Mittermeier sprach er über dessen Einsatz für einen inhaftierten Comedian, mit Ruth Moschner über ihr Zweitleben als Ernährungsberaterin und ja, auch Alice Schwarzer machte schon mit. Aus feministischer Sicht auch höchst interessant: der Insta-Talk mit Doris Dörrie. Nicht nur, weil die Regie-Diva ausplaudert, dass sie in ihrer Sturm-und-Drang-Zeit schon mal hinlangte, wenn ihr ein Mann blöd kam, also nicht verbal, sondern physisch (so was hat selbst die Schwarzer noch nicht fertiggebracht!).
Sigl und Dörrie sprechen auch über mehr Gleichberechtigung am Set. Zum Beispiel dass für das "Winterspecial" des "Bergdoktor" mit "der Franziska" (Hoenisch) erstmals eine Regisseurin auserkoren wurde, man dann aber leider, leider auf halber Strecke stehen blieb. Ihre vertraute Kamerafrau durfte Hoenisch, wie das sonst beim Drehen üblich ist, nicht mitbringen. Nur 19 Drehtage in Schnee und Eis, der Produktionsdruck – Sigl versucht zu erklären, was er selbst nicht versteht, und landet bei Dörries Unverständnis: "Warum soll eine Frau nicht im Hochgebirge arbeiten können? Wegen der Höhenluft, oder was?" Treffer versenkt.
Hinter seinen titellosen Talks stecke kein Formatgedanke, sagt Sigl. "Ich kann das machen, ohne einen festen Plan zu haben, ohne mich an Produktionsabläufe halten zu müssen. Es ist instant, es ist live, und es ist gut so, wie es ist." Gut, sollte ein Sender mal anfragen, ja dann könne man mal schauen, "wie es zeitlich passt". Die Zeit für diese "Leidenschaft" nimmt er sich jedenfalls gern, auch wenn er dreht. Erst am Dienstag sendete Sigl live aus dem Hotelzimmer in Sankt Jakob. Zugeschaltet war "die Anästhesie-Granate mit dem Undercut" (Sigl), auch bekannt aus dem Corona-Fernsehen als Dr. Carola Holzner vom Klinikum Essen. Die wiederkehrenden "Doktoren-Dienstage" mit ihr bezeichnet er als "Service-Talk" auch für sich selbst. Seit seiner eindrücklichen Zivi-Zeit als Pfleger in Innsbruck habe er ein Faible für medizinische Themen. Auch das "Gesundheitsgespräch" mit der tollen Marianne Koch auf Bayern 2 gehöre zu seinem festen Fortbildungsprogramm.
Kein Wunder, dass dem Bergdoktor "Hämachromatose" und "Myelodysplastisches Syndrom" so geschmeidig über die Lippen gehen. Aber warum hat man eigentlich noch nicht das Wörtchen "Corona" von ihm vernommen? Ist eine Arzt-Serie, die der "Bergdoktor" neben all dem Liebestamtam ja auch ist, nicht geradezu verpflichtet zu einem Corona-Plot?
Warum Corona beim "Bergdoktor" kein Thema ist
Sie hätten das diskutiert, inwiefern und ob überhaupt sie die Krankheit schlechthin verhandeln sollen, kamen aber zu dem Schluss, "dass sich unser Format dafür aus verschiedenen Gründen nicht eignet". Zum einen wusste man bei Drehbeginn von Staffel 13 im vorigen Jahr nicht: An welchem Punkt werden wir stehen, wenn wir ausgestrahlt werden? Erzählen wir dann Quatsch? Sind wir dann schon mit dem Virus durch? Oder haben die Leute die Schnauze voll davon? Andererseits fragt sich Sigl: "Den Wahnsinn, den Covid-19 produziert, wie willst du den in eine 90-minütige Familienserie packen? Das funktioniert nicht. Entweder macht Nico Hofmann das große Maskendrama-Event draus oder es gibt einen Polit-Mehrteiler über den Impfskandal." Gott sei Dank, fügt er noch an, "befinden wir uns noch immer in einem Ausnahme- und nicht in einem Dauerzustand, der in einer Serie abgebildet werden müsste."
Und Gott sei Dank gibt es noch anderes Fernsehen. Was linear so läuft, hat Hans Sigl sehr gut im Blick. Von "Hot oder Schrott" bis "Wer stiehlt mir die Show?", alles schaue er sich an, und steht dazu, bis auf den "Bachelor" und ähnliche Formate; bei dieser Art von Fernsehen komme er mit dem Menschenbild und der Idee dahinter nicht klar. Wie man an Sendungen den Zeitgeist ablesen könne, spannend findet Sigl das, "fast schon ein Hobby von mir". Und wenn er sich etwas wünschen könnte: einmal Unterhaltungschef eines TV-Senders sein und Shows ausprobieren, wie er sie sich vorstellt. Bloß nicht das nächste "Wetten, dass…"?, sondern kleinere, schnellere Formate. "Alles, was bunt ist, was sich dreht, ein bisschen Rummel", das mag er, das war schon in seiner Zeit am Tiroler Landestheater so. Operette, "Die Fledermaus", einfach Klasse.
Hans Sigl als TV-Unterhaltungschef?
Ob der "Unterhaltungschef" Hans Sigl auch eine bunte Show wie "Pretty in Plüsch" erfunden hätte? Man weiß es nicht. Der Gentleman hüllt das komplizierte Puppentheater, das auf Sat.1 floppte, in Schweigen. Nur so viel: Er fand es "charmant", dass man ihn als Juror angefragt hatte. Viel lieber spricht er von seinem Kontrastprogramm, das er sich am Ammersee bei München aufbaut: ein eigenes Studio. Nicht weit vom Kaff, wo er mit Frau und vier Kindern ein bilderbuchmäßiges Patchwork-Leben führt, das übrigens sehr viel stetiger verläuft als das seines Alter Ego Martin Gruber, will Sigl mit seinem Kompagnon Daniel Betz Live-Kultur und gestreamten Talk anbieten. Die beiden kennen sich, seit Sigl in Betz‘ Nebenstudio wochenlang Kafka, Goethe, Fontane und all die anderen Reclam-Klassiker einlas. Die Rollenverteilung ist klar: Betz ist der Mann für die Hardware und das industriell Funktionale. Sigl übernimmt den kreativen, künstlerischen Part.
Jonas Kaufmann, der berühmte Nachbar von der Seeseite gegenüber, hat bei ihnen schon ein Liedalbum eingesungen. Ein Kurzfilmfestival schwebt Studiogründer Sigl vor mit Abschlussfilmen aus Ludwigsburg. Der Höhepunkt des Jahres kommt im Mai. Dann will der ZDF-Star aus dem "eskapistischen Feel-Good-Format mit retrograder Ausrichtung" (Sigl über den "Bergdoktor") die "Goldene Ammersee-Renke" an lokale Künstlerhelden verleihen. Wie gesagt: ganz schön spannend das Drumherum des Bergdoktors.