Die Meldung, dass Jennifer Mival den neuartigen Masterstudiengang Entertainment Producing an der Internationalen Filmschule Köln aufbauen und leiten wird, ist seit vier Stunden offiziell, als man sie zum Gespräch auf übermäßig Corona-konformer 600-Kilometer-Distanz trifft. Aufregung, ja Nervosität umflirrt die frisch berufene Frau Professor in ihrem Berliner Homeoffice, gemischt mit Freude. Zahlreiche Gratulationen haben sie am Morgen erreicht, auch von jenen, von denen es Mival nicht erwartet hätte (dazu später mehr). Die Fernsehbranche ist elektrisiert: Eine von ihnen macht rüber von der Praxis zur Lehre. Eine Formatentwicklerin von internationalem Format lässt die Karriere beim Streaming-Vorreiter Netflix sausen, um den Produzentennachwuchs der Unterhaltungszukunft zu formen. Was für eine berufliche Wende! Aber warum in diese Richtung?
Weil das Lehrangebot aus Köln für sie "zur richtigen Zeit" gekommen sei. Weil sie aus ihrer Dozententätigkeit an der Filmuniversität Konrad Wolf in Babelsberg den Austausch mit Studierenden "sehr zu schätzen" wisse. Weil die jüngere Generation gerade beim Thema Innovation "oft schon viel weiter sei", auch was den eigenen Medienkonsum angehe. Weil die Verbindung von Lehre und Praxis "sehr befruchtend" sein könne. Weil die Lehre einen zwinge, "das eigene und über die Jahre automatisierte Tun zu hinterfragen". Weil die regelmäßige Auseinandersetzung mit der Frage "Hat das, was ich tue, noch immer Gültigkeit, gerade in einer Phase des Wandels?" "wichtige Impulse" gebe. . . All das antwortet Jennifer Mival und lässt doch Fragezeichen offen.
Offiziell haben sich Jennifer Mival und Netflix einvernehmlich getrennt. Will man weiter bohren nach Beweggründen, nach einem eventuellen Funken Anlass für Unzufriedenheit, gibt sie ziemlich verdruckst den Satz frei, dass sie sich "auf den weiteren Austausch mit Netflix freue", sowohl auf internationaler Ebene als auch mit dem wachsenden Team vor Ort in Deutschland. Sie habe ihre ehemaligen Kollegen immer als "extrem offen und mit wahnsinnig viel Freude an Innovation erlebt, über alle Bereiche hinweg". Bewerber für den Entertainment Master können sich jedenfalls Hoffnungen machen: Neben Ausflügen zu Branchenmessen wie der MIPCOM oder Content London würde Mival gerne auch den ein oder anderen Video Call mit der Netflix-Zentrale in Los Angeles hinkriegen. Und sei es als knackiger "30 minutes slot": "Das wäre bestimmt ein gutes Training für den so genannten Elevator Pitch."
Bewerbungsschluss für das zweijährige, berufsbegleitende Weiterbildungsprogramm ist am 12. April. Mival und ihr Team suchen dafür "ambitionierte Profis" wie Producer oder Sender-Redakteurinnen, "die ihren Blick und ihr Wissen über den Entstehungsprozess und den Kontext von Unterhaltungsproduktionen erweitern wollen". Sie sollen nicht nur ein abgeschlossenes Studium mitbringen, sondern auch "die Lust daran, das Genre Entertainment ernst zu nehmen und weiterzuentwickeln“. Wer sich in dieser Profilbeschreibung wiederfindet und Lust an einer Bewerbung hat, aber die Studiengangsleiterin noch nicht persönlich kennt, sollte sich für die Ansprache vormerken: Es heißt "Meivel". Den englisch ausgesprochenen Nachnamen hat sie sich angeheiratet – der Erasmus-Studienaufenthalt in Edinburgh hatte was nachhaltig Verbindendes. Den anglophilen Vornamen wiederum gaben ihr ihre Eltern.
Es war eine Kindheit im Schwarzwald, "typisch westdeutsch" sei sie sozialisiert, sagt Mival. Für einen reinen Lehrerhaushalt vielleicht nicht ganz so typisch war, dass es keine Fernsehverbote gab. Sogar einer der ersten Videorekorder wurde angeschafft, um im TV ja nichts zu verpassen. Quasi eine sehr frühe Form des Video-on-demand wurde in Mivals Familie schon praktiziert, als Netflix-Gründer Reed Hastings noch gar nicht ans DVD-Verschicken dachte geschweige denn ans Streamen. Nur Samstagabends, wenn "Wetten, dass…?" lief, war die gesamte Familie live vor der Glotze vereint: "Es war eins der wenigen Formate, wo man sich in meiner Familie als Kind bis spät vor den Fernseher setzen durfte." Von diesem Ritual ist Mival die Erkenntnis geblieben, "was gute Unterhaltung schaffen kann: ein Gefühl von Gemeinsamkeit". Gemeinsam erleben, gemeinsam mitfiebern, darin liege die Stärke linearen Live-Fernsehens, weshalb sich Mival auch sehr über den Erfolg "The Masked Singer" ihres früheren Arbeitgebers Pro Sieben freut. Aber was genau sind die absolut notwendigen Ingredienzen für "gute Unterhaltung", die idealerweise auch noch kommerziell erfolgreich ist? Wer wenn nicht sie müsste wissen, wie man sie herstellt?
Gleich nach dem Magister verschlug es die studierte Medienwissenschaftlerin ins Mutterland vieler Entertainmenterfolge. In London, in ihrem allerersten Job überhaupt, erlebte sie hautnah mit, wie ein gutes Unterhaltungsformat in kürzester Zeit die Welt erobert und damit die Existenz einer Produktionsfirma über Jahre sichert. Den Welterfolg von "Who Wants to Be a Millionaire?" hätten sie sich damals alle nicht vorstellen können, erinnert sich Mival an ihre Zeit als Production Trainee bei ECM Productions, aber er sei im Nachhinein erklärbar: "Es geht eine unglaubliche Faszination davon aus, jemandem dabei zuzuschauen, wie er im Begriff ist, Millionär zu werden, und wie sich sein Leben potenziell ändert."
Ob Sie denn in London zufällig auch die Weltformel für gute Unterhaltung eingepackt hat, die sie nun an die Studierenden in Köln weitergeben wird? Da muss Mival lachen. Dass es so eine Formel gibt, ja, das glaube sie schon. Den Beweis dafür hätten globale Hits wie "The Voice" oder eben "Wer wird Millionär?" erbracht. Wenn ein Format an den Kern des Menschseins gehe und Spielregeln habe, in denen wir uns alle wiederfinden, "dann hat es gute Chancen auf weltweiten Erfolg", glaubt Mival. Das hätten Unterhaltungssendungen gemein mit Brettspielen wie Monopoly. Doch welche Idee sich weltweit am Ende durchsetzt, auch durchsetzt gegen lokale Widerstände der Art "bei uns wird das niemals funktionieren" – da ist Mival zufolge viel Trial and Error im Spiel, aber auch Expertise in Sachen Umsetzung und weltweiter Vermarktung. Diese Aspekte sollte man ihrer Meinung nach nicht unterschätzen: "Da darf unser Masterstudiengang gerne mal genauer hinschauen, welche Muster sich erkennen lassen. Und wie oft ein Schuss daneben geht, bevor ein internationaler Hit entsteht."
Was wiederum zu der Frage führt: Gibt es in Deutschland, im Fernsehreich der eingekauften Adaptionen, zu wenige eigene Hit-Maschinen? Braucht es deshalb diesen Master für Show und Co.? Natürlich, sagt Mival, falle auf, dass Deutschland im Vergleich zu kleineren Märkten wie Holland oder Israel sehr wenig eigene Entwicklung auf die Beine stelle – wobei auch aus Großbritannien in jüngster Zeit weniger komme. An kreativem Potenzial mangelt es aus ihrer Sicht aber nicht. Es habe eher strukturelle Gründe: Wer im internationalen Verbund Zugriff hat auf einen Formatkatalog mit fünf Hits plus Trailer und Erfolgsquoten, warum soll man dann was Eigenes ins Schaufenster stellen, von dem man nicht weiß, ob es sich verkaufen lässt? Aber, es gebe Ausnahmen von der Regel, und die findet Mival "auffälligerweise oft bei Moderator*innen geführten Firmen", die, soweit ihre Theorie, "eher nach dem Lustprinzip handeln" und Formate dem moderierenden Chef auf den Leib schneidern. Gemeint ist Mivals aktuelles Entertainment-Highlight: "Wer stiehlt mir die Show?".
Warum diese Pro Sieben-Show das Zeug zur internationalen Markteroberung hat, werden Mival und ihre Studierenden ab Herbst sicher analysieren (zumal zum Dozenten-Pool auch Arne Kreutzfeldt von der Florida Entertainment gehört). Alles schön praxisnah natürlich und immer in enger Kooperation mit der Produzentenszene, die ja diese von NRW-Medienstiftungschefin Petra Müller initiierte Weiterbildungsmaßnahme drei Jahre lang und nicht zuletzt aus Eigennutz mit entwickelt hat. Denn der Bedarf respektive die Not ist groß: Immer mehr Sender und Streamer verlangen nach immer mehr Entertainment. Auf Produktionsseite will man wachsen, aber es fehlen die Fachkräfte, speziell auf der Ebene Executive Producer.
Der allererste, der Mival zum Start als Professorin gratulierte, war übrigens – nein, kein Produzent – Tilo Jung. Das ist jener Journalist, der zwar nicht mehr so sehr jung ist, aber noch immer naiv die politische Hauptstadt-Hautevolee auf seinem YouTube-Kanal "Jung & Naiv" stundenlang interviewt. 2013, da war Jung gerade mal ein halbes Jahr online, holte ihn Mival zum linearen Fernsehen. Sie war kurz zuvor Programmchefin von Joiz geworden und schon damals aufgeschlossen für Entertainment aller und auch ernster Art, wie sie auf YouTube, dem größten "Fernsehsender" der Welt, hin und wieder vorkommt – und der die akademischen Tore in Köln Mival zufolge offenstehen sollen: "Fernseh- und YouTube-Expertise können enorm voneinander profitieren, wenn man sie zusammenkommen lässt, so wie wir es vorhaben."
Der Professorinnenjob in Köln wird Jennifer Mival, das lässt sie dann noch en passant einfließen, nicht so sehr ausfüllen, als dass keine Zeit bliebe, sich parallel auch anderweitigen Aufgaben zu widmen. Aber das wäre dann Stoff für eine andere Geschichte.