Den tiefen Plumps der Erleichterung in Annette Ditterts Brust müssen sie auch in Westminster vernommen haben, als am vorletzten Tag des annus horribilis 2020 das britische Parlament Boris Johnsons Deal mit der EU das Plazet gab. Endlich vorbei dieses ewige Warten auf "gibt’s einen Deal, gibt’s keinen Deal", das die London-Korrespondentin der ARD seit zwei Jahren nonstop beschäftigt hat und ihr, by the way, das Weihnachtsfest vermasselt hat. Das zu verschmerzen fiel ihr, da ist sie ganz Reporterprofi, deutlich leichter als die Ungewissheit darüber, was die Einigung letztlich bringt, zumal jetzt auch noch die Pandemie alle Brexit-Probleme überlagert.
Seit dem 6. Januar steckt Großbritannien erneut in einem umfassenden Lockdown. Die Corona-Zahlen sind dramatisch hoch, jeder Dreißigste in London ist infiziert. Die Schulen bleiben geschlossen, Erwachsene sollen von zu Hause arbeiten. Der traditionelle Gin o‘Clock, wenn ganze Büros freitagabends in den Pubs verschwinden einschließlich des ARD-Studioteams: gestrichen. Die Studioleiterin, die übers Coronajahr "insgesamt sehr entspannt" geblieben war, überlegt sich jetzt schon, ob sie unbedingt in den Supermarkt gehen muss. Sie hat sich eingeigelt auf ihrer Emilia, wo man sie per Video erreicht.
Annette Dittert dürfte weltweit die einzige Korrespondentin sein, die dauerhaft auf einem Hausboot lebt und arbeitet. In der Pandemie werden die Planken zum Ersatzstudio. Live-Schalte vom Kanal, no problem. Von Little Venice, wo Emilia angetäut ist, braucht es eigentlich nur rund 20 Fahrradminuten zu 1-5 Midford Place, Bloomsbury, der Adresse des ARD-Büros für TV und Hörfunk. Wann immer es geht, schwingt sich Dittert auf ihr "Pferd", ein altes englisches Rennrad, um am Stau vorbei ans Ziel zu gelangen. Doch momentan ist Corona-Ausnahmezustand. Während Kernteam A im Studio arbeitet, schneidet Kernteam B die Beiträge in einer angemieteten Wohnung. Die Chefin selbst arbeitet meist vom Kahn aus. Grad hat sie Pause.
Für dieses Bild-zu-Bild-Gespräch hat sie oben rum eine dieser mutigen Kombinationen aus pinken Karos und blauem Pullunder drüber gewählt, die stets die Fantasie von Social-Media-Kommentatoren anregen und ihr den Beinamen "bunter Vogel in der Korrespondentenwelt" einbrachten. Die Sirenen der London Ambulance dringen ohrenbetäubend durchs Computermikrofon bis über den Ärmelkanal. Aber die Queen bleibt unbeeindruckt. Majestätisch winkt das Deko-Püppchen von Ditterts Bücherregal zu, stilecht in royalem Rosa.
Deutschland habe "beklagenswert wenige Könige", merkte einmal Rolf Seelmann-Eggebert an, Ditterts Vorgänger auf dem Korrespondentposten back in the eighties. Woraus man schließen darf: Ohne die Royal Family wäre der Job in London nur halb so lustig. Das gilt auch für die aktuelle ARD-Bürochefin. Zum Thema "MeghZit" offenbart sie ebenso viel Expertise wie zum Brexit-Leid schottischer Fischer. Na klar wäre ein Interview mit Elisabeth II. die Krönung ihrer Karriere, nickt Dittert, wer will das nicht? Aber es bleibe eine Illusion. "Die Queen gibt generell keine Interviews. Und das finde ich auch gut so." Da halte sie es mit dem berühmten Zitat von Walter Bagehot: We must not let daylight in upon the magic. Frei übersetzt: Man darf den Schleier nicht lüften, sonst verlieren die Royals ihre Magie.
Ihr "Gefühl des selbstverständlichen Zuhauseseins", das ist vorbei, das ist weg. "Als ob die Insel ein bisschen mehr in Richtung Atlantik gerutscht ist", beschreibt Dittert ihre Stimmung seit dieser vermaledeiten Juninacht 2016, als ein Referendum den Brexitschlamassel ins Rollen brachte. Sie persönlich glaubt: "Der Brexit war ein Schuss ins Knie auf jeder Ebene. Ich sehe keine Vorteile für die Briten." Im Gegenteil. In den nächsten Wochen und Monaten werde sich der Corona-Schleier lüften und zutage fördern, wie viel Schaden die britische Wirtschaft durch den EU-Austritt nimmt. Ditterts Prognose: "Es wird ein slow decline zurück in die Siebziger."
Verloren haben bereits die einstmals rund 3 Millionen Festlandseuropäer auf der Insel. Wie bei vielen anderen Wahlengländern schwingt auch bei Annette Dittert Entrüstung mit über den Umgang der britischen Regierung mit den EU-Bürgern im Land. Lange habe sie mit sich gerungen, ob sie sich überhaupt um den settled status, eine Aufenthaltsgenehmigung, bewerben solle. "Warum müssen wir EU-Bürger, die schon so lange hier leben, uns eigentlich dafür bewerben?" Der bürokratische Aufwand sei enorm, nicht jedem gelinge es, die entsprechenden Dokumente zu beschaffen.
"Die Brexiteers müssen jetzt zeigen, warum es das wert war."
Annette Dittert
Hätte sie keinen Vertrag mit der ARD, könnte sie in London nicht mehr so einfach leben und arbeiten. "Ohne Arbeitsvisum geht gar nichts mehr." Besucher vom Kontinent dürfen sich nur noch maximal 90 Tage im Vereinigten Königreich aufhalten. Wer einen EU-Bürger beschäftigen will, muss nicht nur nachweisen, dass man keinen Briten für den Job findet, man muss ihn auch sponsern mit an die tausend Pfund pro Nase und Jahr. Diese papier- und kostenaufwändige Erfahrung macht Dittert gerade selbst. Im Sommer soll ein neuer Cutter aus Deutschland herüber ins Team kommen. Vor dem Brexit wäre das kein großer Verwaltungsakt gewesen. Jetzt muss die ARD extra einen immigration lawyer engagieren und bezahlen.
Der Gedanke, London vielleicht doch in Richtung Deutschland zu verlassen, kommt angesichts solcher Hürden Annette Dittert immer wieder. Aber vorstellen kann sie es sich nicht. "Deutschland ist mir doch ziemlich fremd geworden nach all den Jahren." Vorigen Sonntag zum Beispiel schaltete sie, die mit angelsächsischer TV-Ware nun wirklich verwöhnt sein dürfte, nach langer Zeit wieder den ARD-"Tatort" ein. Es war der aus Köln, jener Stadt, in der sie vor 58 Jahren geboren wurde. Wow, ist ja interessant, dachte die Exil-Kölnerin also, so eine andere Kultur, andere Themen, anderer Umgang miteinander. Der Gedanke wiederholte sich, als Dittert kürzlich eine Sitzung im Reichstag verfolgte. "Der ganze Diskussionsstil ist so fundamental anders." Im Vergleich zu dem, was sie in England erlebe, sei Deutschland aus der Ferne betrachtet "noch immer sehr solide und vernünftig, aber auch grundlangweilig – das ist irgendwie auch beruhigend".
Zur deutschen Tagespolitik an sich sei ihr über die Jahre "einiges weggerutscht", gibt die Auslandsreporterin zu. Sie sei schon froh, wenn sie wenigstens den Überblick über das Inselgeschehen behalte. Das Thema Brexit, so viel ist gewiss, wird sie auch 2021 nicht los. Wobei sie glaubt, dass es die Leute in Deutschland "nicht mehr so interessiert": Brexit is done – Brexit ist passiert, auch für die Deutschen. Trotzdem arbeitet Dittert gerade an einem Magazinstück über die britische Musikindustrie, gegen die Boris Johnsons Leave-Truppe die Abrissbirne schwingt, ohne es zu merken. Sie kenne Mitglieder von britischen Pop-Bands, "die wirklich verzweifelt sind: Sie können es sich nicht mehr leisten, in Europa zu touren. Es kostet zu viel Geld und ist zu umständlich geworden".
Ein Blick über den Brexit hinaus
Es bleibt ihr die Vorfreude, bald wieder als Reporterin im Land herumzureisen, was wegen der ständigen Aktualität und auch wegen Corona zuletzt kaum möglich war. Auf Schottland, wo sich bei den Wahlen im Mai erneut die Frage nach der Unabhängigkeit stellen könnte, freut sich Annette Dittert ganz besonders, "ein tolles Land und so anders als England". Und das beste: Schottland ist auf der Emilia über das Kanalsystem problemlos zu erreichen.
Im Bauch der Emilia steckt ein alter Dieselmotor, "der ist relativ einfach zu durchschauen", sagt die Bootsführerin fachkundig. Service und Instandhaltung übernimmt sie weitgehend selbst. Unabhängigkeit in allen Lebensbereichen, das ist Annette Dittert sehr wichtig. Das hat sie sich von ihrem first role model abgeschaut, von Pippi Langstrumpf. Bei aller Traurigkeit und Melancholie, die in Astrid Lindgrens Figur auch mitspielen, wünschte sie sich schon als kleines, fernsehschauendes Mädchen: "So wie Pippi möchte ich auch mal sein. Und in gewisser Weise lebe ich hier auf meinem Boot ein bisschen so wie sie." Na dann man tau.