Das neue Corona-Jahr hätte bei "Markus Lanz" fast begonnen, wie das alte endete: dasselbe Dauerthema, derselbe Dauergast wie in 17 Sendungen zuvor. Am Mittwoch also hätte Karl Lauterbach wieder einmal in jenes Studio in Hamburg-Bahrenfeld kommen sollen, das ihm inzwischen so vertraut sein dürfte wie das eigene Wohnzimmer. Aber dann schnappte sich am Montag die kurzfristig aus der Winterpause zurückgeholte ARD-Konkurrenz "hart aber fair" den frisch gekrönten "Talkshow-König" und Gesundheitsexperten der SPD.
Das war dann doch zu viel Lauterbach-Präsenz im TV für den anderen Markus im "Markus Lanz"-Gespann: Markus Heidemanns, als Produzent und Chefredakteur hauptverantwortlich für die Gästeeinladungen in der ZDF-Talkshow seines Geschäftspartners und moderierenden Aushängeschilds Markus Lanz, tauschte den studierten Epidemiologen Karl Lauterbach gegen den Digital-Epidemiologen Dirk Brockmann vom RKI aus. Dass diese Ausladung nicht den Endpunkt einer erfolgreichen Fortsetzungsgeschichte bedeutet, dürfte indes so sicher sein wie das Amen in der Kirche.
"Markus Lanz" und Corona, das kann man unbestritten so stehen lassen, haben den neuerdings nicht mehr Fliege tragenden Polit-Sonderling aus Leverkusen nach seinem Scheitern um die SPD-Führung zum großen Medien-Comeback verholfen. Piekst man Markus Heidemanns erneut auf diese auffällige synergetische Achse Lauterbach-Lanz an, ist er sofort auf der Zinne. In seiner Predigt, die eher belehrt als erklärt, ist er kaum zu stoppen, die Hände reden im Video-Interview mit, und der silberne Totenkopfring an seinem rechten kleinen Finger, ein Relikt aus wilden Punkbandzeiten (und in Kopie auch Verlobungsring seiner Ehefrau Estefania), unterstreicht noch die Vehemenz seiner Worte.
138 Mal ging "Markus Lanz" auf Sendung im vorigen Jahr, mit rund 480 Gästen, zählt Heidemanns auf. "Wenn nach zehn ungewöhnlich harten Monaten, in denen die Redaktion sensationelle Arbeit geleistet hat, nur ein einziger Name hängenbleiben würde, dann wäre das in der Tat wirklich schade." Und überhaupt, fragt er grimmig zurück, warum solle er einen guten Gast zu einem bestimmten Thema nicht einladen, nur weil er schon so oft da war? "Mich hat immer die Meinung von Karl Lauterbach interessiert." Kaum einer habe schließlich mit seiner Einschätzung und Prognose so richtig gelegen wie dieser "sehr gute Epidemiologe und führende Experte" in der Pandemie. "Das können wir belegen. Bei uns sprach er schon von der zweiten Welle, als ihn alle anderen als apokalyptischen Reiter belachten."
Belegt ist definitiv, dass die Corona-Sendungen, ob mit oder ohne Lauterbach, dem dreimal die Woche gesendeten ZDF-Talk Quotenhöhenflüge bescherten. Gerade bei den unter 49-Jährigen ist der Marktanteil in der stolzen Heidemanns-Vergleichsrechnung zu 2019 "um rund 80 Prozent gestiegen", "Markus Lanz" gehöre regelmäßig zu den jüngsten Sendungen im ZDF. Wenn gerade jüngere Leute sich die Sendung aussuchten, um ihre Fragen zu Corona beantworten zu lassen, "dann machen wir anscheinend sehr viel richtig". Die Redaktion sei im Frühjahr 2020 "als Volkshochschule gestartet" und habe heute "den Wissensstand einer Art Corona-Uni im siebten Semester" erreicht. Heidemanns selbst hätte sich jedenfalls vor zehn Monaten kaum träumen lassen, dass auch er jederzeit irgendwo als wissenschaftliche Hilfskraft zum Thema Corona-Viren und Pandemie anfangen könnte.
Diese Expertise haben sich die beiden Markusse gemeinsam aufgebaut, so wie sie auch ihre Talkshow in enger Abstimmung auf neue Wege führen, was Heidemanns gerne mit dem Wort "Metamorphose" umschreibt. Schon in der Endphase von "Johannes B. Kerner", dem Sendeplatzvorgänger von "Markus Lanz", arbeitete Heidemanns daran, den Spät-Talk von einer Bühne für Produktepromotion berühmter Leute wegzuführen. Als sich Kerner dann von Sat.1. abwerben ließ und Heidemanns vollständig die gemeinsam gegründete Firma Fernsehmacher übernahm, setzte er mit Lanz und der neuen Tochterunternehmung MHoch2 den Kurs fort: Geschichten erzählen, die über den Zweizeiler im Insta-Feed hinausgehen, hinter die eigentliche Aussage schauen. Das gilt insbesondere für politische Gäste, mit denen sich "Markus Lanz" seit einiger Zeit intensiver beschäftigt.
Manchen gilt der Lanz-Talk inzwischen als beste politische Gesprächssendung im deutschen Fernsehen und das, obwohl sie beim ZDF noch immer in der Abteilung Unterhaltung geführt wird. Für Produzent Heidemanns steht außer Frage: ",Markus Lanz‘ hat sich von einer unterhaltenden zu einer politischen Talkshow entwickelt." Die Anerkennung im Kollegenkreis wächst. Bereits zum zweiten Mal kürte das Fachjournal "medium magazin" Markus Lanz zum "Unterhaltungsjournalist des Jahres". Feuilletonisten wie Maxim Biller bekannten sich öffentlich zu ihrem Fantum. Und selbst die sonst sehr kritische "taz" überschüttete die "schleimige und neoliberale Hassfigur" in ihren linken Kreisen mit unideologischer Liebe.
Die hat es laut Heidemanns, dem Jüngeren, "so nie gegeben". Dass zwei Brüder, die gleichzeitig die besten Freunde sind, miteinander reden, sei völlig klar. Aber genauso klar sei, "dass wir immer die redaktionelle Hoheit darüber behalten haben, was wir herausgeben und was nicht". Spätestens das überraschend heftige "Bild"-Bashing von Lanz‘ "Wetten, dass…?"-Gehversuchen, die Produzent Heidemanns mit betreute, ließ den Austausch versiegen. Martin Heidemanns nahm Anfang 2020 eine saftige Springer-Abfindung in die Selbstständigkeit mit, und die "Lanz"-Redaktion spricht ohnehin vorab lieber mit dpa, wenn ein interessanter Gast kommt.
Wer kommt, das besprechen sie bei "Markus Lanz" immer gemeinschaftlich, aber stets unter Beachtung des obersten Heidemanns-Gebots: "Ein Name ist noch kein Gast." Erst das Thema, dann beginnt die Suche nach dem passenden Personal. Oder, das kommt auch vor, man wird ausgesucht wie im vorigen Herbst von Barack Obama. Der ehemalige US-Präsident hatte ein dickes Buch geschrieben, das es auch in Germany zu vermarkten galt. Am ZDF vorbei ging das Gesprächsangebot direkt an die Lanz-Redaktion. Ob es Ärger gab, Eifersüchteleien bei Maybrit Illner? Heidemanns pariert mit einem "ich glaube, dass man beim ZDF stolz war, dass das Interview überhaupt im Sender stattgefunden hat". Mit der Kollegin Illner verhalte es sich im Übrigen genauso wie mit den ARD-Fachkräften im Talk-Gewerbe: "Da ist offener Konkurrenzkampf."
Eine Woche Vorlauf hatten sie, zu kurz eigentlich, um ein Visum zu bekommen. Erst als sich das Obama-Büro einklinkte, ging es voran. Nach 48 Stunden hatten sie die Zusage von der Botschaft in Berlin, nach 72 Stunden ein fünfjähriges Journalistenvisum für Amerika. Weitere 24 Stunden später saßen der Moderator und sein Produzent im Flieger nach Washington – so einen Coup wollte Markus Heidemanns nicht aus der Ferne beobachten. Sowieso hat er in all den Jahren mit fast 1500 Aufzeichnungen bis auf ein einziges Mal – da unterzog er sich einer OP – keine Lanz-Sendung verpasst. Wenn er denkt, ein Gast im Studio erzählt dummes Zeug, dann ist er es in der Regie, der mit einem zugeflüsterten Faktencheck in die Sendung eingreift oder Lanz mit seinem Zweifel antickt.
Anonymität ist im verrückten Fernsehgeschäft ein wertvolles Gut.
Über die Jahre ist daraus ein gut abgestimmtes Zusammenspiel geworden. "Markus und ich können uns blind aufeinander verlassen." Den Mann an der Interviewfront bremsen oder anstacheln müsse er gleichwohl nicht. Da seien sie eng beieinander, wohin ein Interview gehen soll. Immer ein "Boxkampf auf Augenhöhe" soll es sein nach anglo-amerikanischem Vorbild: rangehen, wieder loslassen, rangehen, wieder loslassen. Kein Moderator im deutschen Fernsehen sei im Gespräch mit Politikern so mutig wie Markus Lanz, glaubt Heidemanns. "Er scheut sich auch nicht, einem Politiker offen zu sagen: Das glaube ich ihnen nicht. Damit bezichtigt er den Gast immerhin, dass er die Unwahrheit sagt." Aber leicht müsse es zwischendurch auch sein. Er hätte jedenfalls keinen Spaß daran, eine Sendung zu produzieren, in der sich ein Gast einem einzigen Störfeuer aussetzen lassen müsste, wie es hierzulande etwa Michel Friedmans Art war, sagt Heidemanns.
In der US-Hauptstadt dürfte sich der berühmtere Markus von beiden ausnahmsweise mal ohne Sonnenbrille und Baseballkappe bewegt haben, die übliche Camouflage, um unbehelligt durch den privaten Alltag zu kommen. Einmal auf der anderen Seite des Atlantiks, besuchten Heidemanns und Lanz übrigens gleich mal "den Elmar". Auch Elmar Theveßen, amtierender ZDF-Korrespondent in Washington, war im vergangenen Jahr ein sehr oft gesehenes Gesicht bei Lanz, noch öfter als Karl Lauterbachs, wenn auch nur zugeschaltet auf der mannshohen Videowand.
Seit Corona ist sie im Dauerbetrieb, wenn kein Flieger fliegt und selbst der hauseigene Fahrservice daran scheitert, Politiker, Virologen und Hauptstadtjournalisten ins Studio nach Hamburg zu karren. Das ZDF war anfangs skeptisch. Gäste in eine Talkshow zu schalten, müsste doch nicht sein. Aber die Sache hat sich aus Heidemanns Sicht bewährt. Über 25 Minuten Eins-zu-Eins-Talk mit Theveßen, das war die längste Schalte in 2020. "Bei uns kann Elmar Sachverhalte und Geschichten vermitteln und erläutern, die in einer Dreiminutenschalte im heute-journal nicht möglich sind."
So war es auch an diesem Mittwoch, als Trumpisten das Capitol in Washington stürmten. Wenige Minuten, bevor der Mob ihm und den anderen Journalisten das Equipment zertrümmerten, war der ZDF-Korrespondent in der Lanz-Aufzeichnung drin. Am Donnerstag dann das gleiche Zusammenspiel. Der Wahnsinn in Washington und der Wahnsinn Corona, sie werden nicht nur Markus Heidemanns weiter bewegen. Und seine Gästeauswahl entsprechend bestimmen.
Wäre Trump eine Option, will man zum Schluss noch von ihm wissen. Reizen würde es Heidemanns schon. "Ich würde ihn fragen, wie er sich nach dem Sturm auf das Kapitol als Brandstifter fühlt. Es dürfte in einem Interview mit Trump kaum ein Satz fallen, in dem er nicht lügt. Es wäre eher so, als ob man mit einer Taube Schach spielt. Und wie das ausgeht, ist ja bekannt…"