Am kommenden Freitag werden zum 61. Mal die Grimme-Preise für herausragende Qualität in Fernsehen und Streaming vergeben. Die Preisträgerinnen und Preisträger sind längst bekannt, große Überraschungen sind in dieser Hinsicht nicht zu erwarten. Und doch darf man gespannt sein auf eine Premiere: Erstmals wird Çiğdem Uzunoğlu im Stadttheater Marl auf die Bühne treten und sich im kurzen Plausch mit Gala-Moderatorin Jana Pareigis vorstellen: als neue Chefin des Grimme-Instituts.
Oder sollte man besser sagen: als Saniererin? Heilsbringerin? Leuchtturmwärterin? Wegweiserin in die Medienzukunft?
Sagen wir’s, wie’s ist: Trotz all dem schönen (in Marl bescheiden zelebrierten) Fernsehglamour gibt es derzeit attraktivere Jobs als den der Direktorin und Geschäftsführerin des Grimme-Instituts.
Unter Uzunoğlus Vorgängerin, Frauke Gerlach, war die nach dem ersten deutschen Generaldirektor des NWDR, Adolf Grimme, benannte Institution in finanzielle Schieflage geraten. Mitarbeitende mussten gehen, die Verbliebenen verzichteten auf eine Lohnerhöhung, Aufgabenfelder wie die Abteilung für Medienbildung wurden aufgegeben. Sogar der Grimme Online Award (GOA), mit dem Internetangebote ausgezeichnet werden, sollte ausfallen. Erst ein Zuschuss durch das Land NRW, Hauptfinanzier und Ko-Gesellschafter des Instituts, machte die Verleihung im vorigen Herbst doch noch möglich.
Aber auch Image und Sichtbarkeit haben über die Jahre gelitten. Oder frei gesagt nach den Worten von NRW-Medienminister Nathanael Liminski (über den es diese „Nahaufnahme“ zu lesen gibt): Der „Leuchtturm für Qualität medialer Angebote“ leuchtet nicht mehr so wie früher.
Bekannt war das Grimme-Institut ja einst nicht nur für seine Preise. Brannte es in der Medienwelt, war der Thinktank für Medien, Bildung und Kultur am Nordrand des Ruhrgebiets erste Adresse für fachliche Einordnung. Doch die „Grimme-Stimme“, sie war zuletzt fast völlig verstummt.

Mehr mediale Präsenz, mehr Präsenz auf Tagungen und Panels, neue Projekte, mehr Wahrnehmung auch über die NRW-Landesgrenzen hinaus: Das waren die Schlagworte in Uzunoğlus erster öffentlichen Rede als Institutsleiterin gewesen. Und wie sie da so am Mikrofon stand, in ihrem signalroten Hosenanzug, erstmal viel über sich und ihren Werdegang sprach, dann über ihre Pläne für das Grimme-Institut, das ließ eigentlich keinen anderen Schluss zu: Jetzt wird alles wieder gut, ja?
Surprise, surprise, die großen, auch von ihr selbst befeuerten Erwartungen dämpft die neue Grimme-Direktorin sogleich, als man sie darauf anspricht: „Auch ich habe große Erwartungen an das Institut. Es ist keine Einbahnstraße, dass ich als Geschäftsführerin gekommen bin und jetzt lösen sich alle Probleme. Wir müssen die Lösungen gemeinsam finden und den Mut haben, sie auch umzusetzen.“
An anderer Stelle in unserem Gespräch sagt Uzunoğlu aber auch das: „Dieses Visionäre, das nach vorne blicken und nach Lösungsansätzen suchen, das zeichnet mich aus. Das bin ich: Da ist ein Problem, da fühle ich mich gleich angesprochen. Okay, lasst uns schauen, wie wir es lösen können.“
Okay, dann schauen wir, welche „Probleme“ Çiğdem Uzunoğlu bisher gelöst hat.
Sie war vor allem im Stiftungsbereich tätig. Ihr letzter Arbeitgeber war die Stiftung Digitale Spielekultur. Eine Gamerin wurde sie erst qua Aufgabe. In der Fernsehbranche ist sie noch eine Fachfremde, eine Lernende, so wie es auch ihre Vorgängerin einmal war.
Frauke Gerlach, die im April 2024 nach zwei Amtsperioden mehr oder weniger freiwillig den Direktorenposten räumte, war promovierte Juristin, Çiğdem Uzunoğlu hat in den aufregenden Wendezeiten Politische Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut in Berlin studiert. Nicht etwa, um in die Politik zu gehen. Selbst ein Parteibuch kam für sie nie infrage. Sie wollte „die Zivilgesellschaft proaktiv mitgestalten, aber nicht als Politikerin“. Auslandskorrespondentin hätte sie sich sehr gut vorstellen können. Daraus ist nichts geworden. Sie weiß nicht, ob sie „leider“ sagen soll.
Auslandserfahrung sammelte sie dennoch, bei Studienaufenthalten in England, Ägypten, auch in Kamerun, wo sie 1992 sechs Wochen lang die Oppositionsparteien zu den ersten freien Wahlen quer durchs Land begleitete. Als sie nach dem Diplom bei der ersten NGO einstieg, der Stiftung der Deutschen Wirtschaft, und Forschungsprojekte mit anstieß, die heute noch immer an Universitäten und Schulen umgesetzt werden, da merkte sie schnell: „Was du hier machst, hat sofort Auswirkungen!“ Das fand sie spannender, als aus der journalistischen Perspektive zu beobachten und kritisch die Hand zu heben.
Vielleicht, vermutet Uzunoğlu, hänge das mit ihrer eigenen Biografie als Gastarbeiterkind zusammen.
In Istanbul wurde sie geboren, mit zwei Jahren wurde sie von den Eltern nach Berlin mitgenommen. In der deutschen Hauptstadt behält die inzwischen Mittfünfzigerin ihre Wohnung übrigens trotz Jobwechsel bei. Sie, die sich als „durch und durch Berlinerin“ bezeichnet, zieht das Pendeln einem Komplettumzug mit Sack und Pack und Familie ins nicht minder multikulturelle Ruhrgebiet vor.
Die Politologin in ihr
Mit zwei Kulturen in zwei Welten aufzuwachsen, empfand sie „immer als sehr bereichernd“. Es habe sie „persönlich wie beruflich weitergebracht“. Sie habe „viele Chancen“ gehabt, sagt Çiğdem Uzunoğlu, auf deren anderen Seite aber auch Diskriminierung erlebt.
Den Satz „Na, für eine Türkin haben Sie es ja weit gebracht“ bekam die Frau, deren Name wegen der vielen Sonderzeichen nicht so leichthändig über deutsche Tastaturen huscht, oft zu hören. Natürlich hat er sie getroffen, weil sie ihn nie verstand. Auch heute noch kann sie die Abwertung nicht einordnen und ertappt sich dabei, wie sie sich rechtfertigt, warum sie ein Anrecht habe, in Deutschland zu sein. Ihren Exkurs über die Fehler in der Integrationspolitik von damals und heute stoppt Uzunoğlu irgendwann selbst: „Da merken Sie, dass die Politologin in mir durchkommt.“
Schnell zurück zur Stiftung der Deutschen Wirtschaft, Uzunoğlus erster beruflichen Station, wo sie immerhin 13 Jahre lang blieb. Schon nach drei Jahren trug ihr ihr Vorgesetzter eine Bereichsleitung an. Sie war die zweitjüngste im Team. Dass sie damals noch sehr jung war und dazu eine Frau mit migrantischem Hintergrund, sei ihm völlig egal gewesen. „Er förderte und inspirierte mich und gab mir sehr viele Freiheiten und Gestaltungsräume. Das brauche ich auch.“
Es folgten Stationen beim Berliner Jugendbildungszentrum „Die gelbe Villa“ der Stiftung Jovita und bei der Gütersloher Walter-Blüchert-Stiftung. Ab 2018 führte sie die Geschäfte der Stiftung Digitale Spielekultur und lernte, „wie Digitalität wirklich funktioniert“. Schwerpunkt ihrer Stiftungsarbeit wurde, wie man Digitalität für Werte- und Wissensvermittlung positiv nutzen und Erinnerungskultur in digitalen Räumen lebendig halten kann. Und wenn man die lobenden Worte ihrer damaligen Geschäftspartner und Mitarbeiter nachliest, dann ist ihr das nachhaltig gut gelungen.
Ihren selbstgewählten Abschied im April 2024 begründet Uzunoğlu damit, dass sie nach den „wahnsinnig dichten“ sechseinhalb Jahren mit 12-Stunden Tagen und vielen Wochenendveranstaltungen eine längere Pause brauchte. Noch ein Projekt und noch ein Projekt, das wollte sie nicht mehr. Außerdem war ihr klar: „Okay, du bist Mitte 50. Wenn du noch länger wartest, bist du zu alt für einen Wechsel. Denn machen wir uns nichts vor: Altersdiskriminierung gibt es in unserer Gesellschaft auch.“
Dass sie noch keine feste Zusage für einen Nachfolgejob hatte, macht Uzunoğlus ein Jahr zuvor getroffene Entscheidung zur Kündigung mutig. Dass sie für Old Media freiwillig eine boomende Branche verließ, die noch mehr Geld erwirtschaftet als die Musik- und Filmindustrie zusammen (in 2023 waren es sagenhafte 330 Milliarden Euro!), macht die Sache noch mutiger. Und erst recht, weil auch ihr nicht verborgen geblieben war, dass das Grimme-Institut in der Krise steckte.
"Wir brauchen Fernsehsender als unabhängige, kritisch hinterfragende Institution, die unser demokratisches System stützen."
Im Mai 2024 setzte der Gesellschafterkreis – bestehend aus dem Land NRW, dem Deutschen Volkshochschul-Verband, der Stadt Marl, dem WDR und dem ZDF, der Medienanstalt NRW sowie der Film- und Medienstiftung NRW – interimistisch Peter Wenzel als Geschäftsführer ein, im Hauptberuf Sozialdezernent der Stadt Datteln. Dem fix berufenen Sanierer gelang es trotz der Doppelbelastung, Grimme wieder auf solide Füße zu helfen.
Ein „kaufmännisches Händchen“ ist weiter gesucht und attestiert sich auch Çiğdem Uzunoğlu selbst. Finanzpläne und Jahresbudgets erstellen, Controlling-Systeme aufbauen etc.: Dieser Part war ihr schon in ihren vorherigen Jobs „immer sehr wichtig“, denn: „Eine Geschäftsführung, die die Zahlen nicht versteht, wird es schwer haben.“ Wohl wahr.

Lieber schaut sie, die selbsternannte Visionärin, nach vorn. So möchte Uzunoğlu, dass das Grimme-Institut „auch noch in 60 Jahren Preise vergibt“. Wenn sie auf die diesjährigen Gewinner schaue: „Besser hätte man es nicht machen können“, findet sie, „sie sind ein Spiegelbild unserer Gesellschaft.“ Denn auch diese Funktion habe Fernsehen für sie: „Wir brauchen Fernsehsender als unabhängige, kritisch hinterfragende Institution, die unser demokratisches System stützen. Wie schnell das kippen kann, sehen wir ja gerade in den USA. Das sollte uns aufhorchen lassen.“ Fernsehen, ergänzt sie kämpferisch, sei „auf gar keinen Fall ein Auslaufmodell, eher ein Zukunftsmodell!“
Sollte Uzunoğlu diese Worte im Stadttheater Marl wiederholen, der Applaus im Saal wäre ihr sicher.
Aber auch das will die neue Chefin in Marl, wie bereits gesagt, in Angriff nehmen: Grimme zu seinen Wurzeln als Medieninstitut zurückführen. Es soll wieder einen Beitrag zum Mediendiskurs leisten so wie früher, denn, fragt sie: „Hätte das Grimme-Institut über die Jahrzehnte so ein Renommee bekommen, wenn es nur die Preise vergeben hätte?“
Dafür will Uzunoğlu Räume schaffen, um mit Experten zu diskutieren, etwa über Künstliche Intelligenz, die auch im Fernsehen zunehmend Aufgaben von den Kreativen übernehme. Das werde auch Auswirkungen auf die von Grimme vergebenen Preise haben. Das ist zweifelsfrei wichtig, wirft aber die Frage auf: Wovon will sie das bezahlen?
Sie weiß, dass man sie zu Grimme geholt hat, weil sie Erfahrung hat, wie man Gelder akquiriert. Um an sie heranzukommen, müsse man auch was anbieten, kontert sie: „Ich kann nicht einfach fordern: Grimme braucht Geld, bitte gebt uns was.“ Die entscheidende Frage sei: Wohin soll sich das Grimme-Institut entwickeln? Welchen Beitrag soll es in der Medienlandschaft leisten? Da setze sie auch auf Kooperationspartner.
Konkreter macht’s Çiğdem Uzunoğlu in unserem Gespräch nicht. Sie ist, nach kaum 100 Tagen im Amt, noch immer dabei, sich einen Überblick zu verschaffen. Bevor sie Konkretes hinausposaunt, muss sie sich natürlich mit den Gesellschaftern abstimmen.
Zumindest bezüglich des Grimme Online Award kann sie aber schon eine gute Nachricht verkünden: Es wird eine Preisverleihung in der zweiten Jahreshälfte geben. Eventuell springt zusätzlich eine Tagung heraus. Zum 25-Jahre-Jubiläum des GOA wäre das wirklich angemessen.
Bei allen anderen Vorhaben kann man ihr nach guter Ruhrgebietstradition nur zurufen: Glück auf, liebe Çiğdem Uzunoğlu!
Verleihung des Grimme-Preises, Freitag um 22:25 Uhr bei 3sat
Transparenzhinweis: Die Autorin war Mitglied in der Grimme-Jury Kinder und Jugend.