Wenn es zutrifft, was in dieser Woche bei "Medieninsider" stand, dann war auch der "Tagesschau"-Sprecher Constantin Schreiber zum Casting angetreten, um Nachfolger von Max Moor beim ARD-Kulturmagazin "ttt – Titel, Thesen, Temperamente" zu werden. Aber bekanntlich fanden die namentlich unbekannten Top-Entscheider die Qualitäten von Thilo Mischke überzeugender, was sie freilich nicht davon abhielt, ihren Favoriten nach kurzem heftigen, öffentlichen "Er ist ein Sexist"-Prozess abzuservieren.
Nur mal angenommen, man hätte sich für Schreiber entschieden: Wäre es ihm besser ergangen als Mischke?
Ihm, dem "Deutschlandgesicht mit der gesunden Portion Islamkritik im Unterton" (O-Ton Jan Böhmermann ab Min. 51:32), der kontrovers diskutierte Bücher über den Islam schrieb und seither mit dem Stempel "umstritten" und "problematisch" lebt? Ihm, der in polarisierten Zeiten seine politischen Gedanken in die Talkshows trägt, statt sich auf die „Ich bin die Schweiz, die Schweiz, die Schweiz“-Position eines „Tagesschau“-Sprechers zurückzuziehen? Ihm, der dafür plädiert, die Grenzen des Sagbaren so weit wie möglich zu fassen, denn nicht alles, was einem nicht gefalle, sei Hass und Hetze oder illegitime Meinungsäußerung?
Nichts Genaues weiß man nicht. Gesichert ist nur:
Ein Ausrutscher wie Mischkes autobiografischer Reisebericht "In 80 Frauen um die Welt" findet sich in Schreibers Werkeverzeichnis nicht. Auf seiner Haben-Seite steht dafür, was für die Moderation einer Kultursendung durchaus von Vorteil ist: Er ist Hobby-Pianist.
Egal, wo ein Klavier steht, Schreiber setzt sich ran, macht ein Video davon und heimst Fan-Liebe ein (sogar von einem Profi wie Igor Levit für die herausfordernde "El Albaicín"-Interpretation!). Außerdem hat er durch die "Tagesschau" seriösen Fame und kann Zungenbrecher wie "North Leverton with Habblesthorpe" unfallfrei aussprechen. Last but not least sieht der 45-jährige Moderator und Journalist natürlich unfassbar jung und gut aus.
Also, jetzt, wo das "ttt"-Rennen wieder offen ist: Hätte Constantin Schreiber denn selbst überhaupt noch Interesse? Wo sich doch für ihn inzwischen eine neue Chance im Fernsehen auftut?
Im Herbst kam ein Buch von ihm heraus, in dem er eine offenere Streitkultur und Diskussionen einfordert, die nicht direkt in Schuldzuweisungen enden und schon gar nicht in Gewalt in einem Land mit Presse- und Meinungsfreiheit. "Lasst uns offen reden", so der Titel, ist die Reaktion darauf, dass ihm im Jahr zuvor ein Mann bei einer Lesung an der Universität in Jena eine Torte ins Gesicht schmierte, was wiederum eine Reaktion war auf Vorwürfe, Schreiber sei islamophob und reaktionär.
Über den Islam öffentlich zu reden, hat sich der Angegriffene seither verboten, was er etwa im Gespräch mit "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo begründete. Aber ganz verstummt ist er nicht. Er will "Lasst uns offen reden" nicht allein als Zustandsbeschreibung verstanden wissen. Ein Imperativ soll es sein. Aye, aye.
Draußen bitterkalt, präsentiert sich der Viel-Schreiber, der neuerdings auch Krimis mit Spielort Ägypten verfasst, kurzärmelig-leger vorm Sandwüstenhintergrund von Teams. Er sehe "etwas Tagesschau-unlike" aus, entschuldigt er sich. An seinem dienstfreien Tag versuche er, Heimwerken und Kinderbetreuung miteinander zu verbinden. Das geht auch lange gut, bis seine entzückende Tochter hineinplatzt: "Ich wollte nur sehen, ob du noch lebst."
Haha, Kindermund hat Gold im Mund. Ein Teil der Presse hat ihren Vater hart rangenommen, bis zum "Rufmord", fand der andere Teil. Schreiber sieht das genauso: Ein paar wenige Leute hätten da etwas herbeigeschrieben mit einem Impetus und einer Wortwahl, wo er wirklich erschrocken sei. Er selbst ist überzeugt, dass man ihm in der Sache nichts vorwerfen könne: "Ich habe mir immer sehr gut überlegt, was ich publiziere. Ich bin da sehr bei mir und glaube, dass ich einen funktionierenden Kompass habe."
Was man Constantin Schreiber nun wirklich nicht abstreiten kann, sind seine profunden Kenntnisse der arabischen Welt.
Das Nordlicht, 1979 in Cuxhaven geboren, spricht fließend Arabisch seit einem längeren Aufenthalt als Jugendlicher bei guten Freunden seiner Eltern in Damaskus. Es folgte ein Jura-Studium in Passau mit dem Ziel, Richter zu werden. Nach dem Gerichtspraktikum hatte Schreiber das Ziel nicht mehr. Als Krieg im Irak ausbrach, suchte der Fernsehsender N24 jemanden mit Sprachkenntnis. Und so landete der polyglotte Jurist mit erstem Staatsexamen "wie aus dem Nichts beim Fernsehen".
Die journalistischen Kenntnisse vertiefte er in einem Volontariat bei der Deutschen Welle, für die er später von Dubai aus über die Arabische Halbinsel und Nordostafrika berichtete. Schreiber arbeitete auch als Reporter für eine Tageszeitung in Beirut und als Medienberater für den Nahen Osten im Auswärtigen Amt. Im ägyptischen Fernsehen moderierte er das Pendant zum ProSieben-Magazin "Galileo" und auch dann noch, als ihn 2012 der deutsche Nachrichtensender ntv engagierte.
"Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, nicht mehr auf X stattzufinden, Gespräche dort zu verbieten oder gar Gastbeiträge nicht mehr zu drucken. Es wird rein faktisch nicht funktionieren, da den Deckel draufzumachen"
Mit der Grimmepreis-prämierten Sendung "Marhaba – Ankommen in Deutschland" zu Beginn der Flüchtlingskrise setzte er ein erstes Ausrufezeichen. Auch als Polit-Talker probierte er sich bei ntv aus in einer von Friedrich Küppersbusch produzierten Sendung. Der großmäulige Satz "Ich bin besser als Anne Will" von Schreiber ist überliefert. Na ja.
Im Januar 2017 fing er bei der "Tagesschau" an und liest seither Nachrichten ab, die er nicht selbst geschrieben hat. Er macht das (da hat Jan Böhmermann schon recht) so "glatt und gerade", als wäre er das Produkt einer KI. Ohne die Herausforderungen des Sprecherberufs kleinreden zu wollen: Wäre bei seinen Fähigkeiten nicht mehr drin?
Als nicht "Tagesschau"-kompatibel zählt er auf, in einen Burger zu beißen, also Werbung. Oder von der Regierung bezahlte Aufträge anzunehmen so wie es seine Ex-"Tagesschau"-Kollegin Linda Zervakis tat und viele andere prominente Journalisten auch. So was vertrage sich nicht mit der Journalistenpflicht zur absoluten Unabhängigkeit. Schon zu ntv-Zeiten habe er es zweimal abgelehnt, mit Angela Merkel auf der Bühne zu moderieren, auch wenn gegen den Integrationspreis der Bundesregierung nichts einzuwenden sei.
Nichtsdestotrotz denkt Constantin Schreiber, dass es ein Stückweit Aufgabe seiner Zunft sei, sich nicht nur in der eigentlichen Arbeit auszudrücken: "Journalist ist nicht nur ein Beruf, sondern auch Berufung. Wir haben die Verantwortung, das Klima in einer Debatte zu verbessern, auch auf die Sprache zu achten." Wenn er auf X sehe, wie deftig sich mancher Fernsehkollege äußere, dann findet er das "sehr problematisch": "Viele Menschen schauen auf uns, wir sollten Vorbilder sein in jeder Hinsicht." Er selbst postet nur sporadisch und eher Inhaltsseichtes auf X. Es ist längst nicht mehr sein Medium erster Wahl. Abgemeldet habe er sich nicht, so bedeutsam wäre der Impact nicht. "Wenn Dunja Hayali das macht, hat das eine höhere Aussagekraft."
So sagte es Constantin Schreiber im Dezember, und so behält er es bei unserem zweiten Gespräch vor wenigen Tagen bei, trotz der anwachsenden Kritik an Elon Musk, weil er denkt, dass sich die Art und Weise, wie wir Informationen konsumieren, verändern müsse:
"Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, nicht mehr auf X stattzufinden, Gespräche dort zu verbieten oder gar Gastbeiträge nicht mehr zu drucken. Es wird rein faktisch nicht funktionieren, da den Deckel draufzumachen." Für umso wichtiger hält er es: Dass wir erstens Beiträge wie den von Elon Musk in der "Welt am Sonntag" medial diskutieren und journalistisch einordnen, was ja auch geschehen sei. Zweitens: Es brauche Medienkompetenz. Jeder moderne Mensch müsse beurteilen können, wie Plattformen wie X funktionieren, wie glaubwürdig und beeinflussbar sie sind, um mit kritischer Distanz darauf zu blicken, was dort stattfindet. "Das muss jeder können, nicht nur Journalisten."
Und dann überbringt Constantin Schreiber noch good news in eigener Sache. Es betrifft dieses neue Projekt, dass er sich an der "Tagesschau" vorbei erarbeitet hat.
Am kommenden Montagabend hat im Berliner Pfefferberg-Theater "Constantin Schreiber Late Night" Premiere. Es ist eine Bühnenshow und für ihn "wirklich ein Herzensprojekt", weil es ihn an den Punkt zurückführe, warum er Journalist geworden sei: Er möchte wieder Gespräche zum Zeitgeschehen mit spannenden Persönlichkeiten führen. Im besten Fall kommt dabei ein Gefühl von "Lagerfeuer-Talk" auf, der uns abhandengekommen sei: "Alle sind so ernst und politisch geworden."
Relevant sein will er natürlich auch, aber eben auch unterhalten, mit Augenzwinkern. Wenn er sagt: "Late Night nehmen wir ernst", dann heißt das, dass er seinen Premieren-Gast, die Grünenpolitikerin Katrin Göring-Eckardt, in einen Escape-Room einsperrt, aus dem sie sich befreien muss. Mit Max Raabe wird er musizieren und über dessen Israel-Tournee sprechen, und "Focus"-Journalist Jan Fleischhauer kommt die Aufgabe zu, das neuste politische Geschehen zu kommentieren.
Late Night soll auch im TV laufen
Produziert wird "Constantin Schreiber Late Night" vom Konzertbüro Augsburg, einem der größten Veranstalter von Live-Shows, der neben Bülent Ceylan und Mario Barth auch schon Schreibers True-Crime-Show "Angeklagt" betreut, mit der er seit vorigem Jahr durch die Stadttheater zieht. Live auf der Bühne performen, für den "Tagesschau"-Tausendsassa kein Ding. Ab Herbst soll die Late Night auch im Fernsehen zu sehen sein.
Es liegt ein Vertrag auf dem Tisch, dessen Details Schreiber gerade noch klärt. Dass seine Late Night eher nicht bei seinem Haussender NDR laufen wird, davon ist ziemlich sicher auszugehen, wenn man kurz den Fall Linda Zervakis zurückruft.
Schreibers Ex-Kollegin hätte beim NDR gerne mehr gemacht, als nur die Nachrichten zu sprechen, war aus ihren Statements herauszuhören. Aber mit jedem Exposé scheiterte sie, als sei die "Tagesschau"-Prominenz kein Bonus, sondern ein Malus. Bei Pro Sieben wurde sie allerdings auch nicht recht glücklich und endete zuletzt bei einer Quatschsendung über Fake News. Wie sich das mit ihrem brandneuen Podcast "Berlin Code" aus dem ARD-Hauptstudio verträgt, ist ein anderes Thema.
Bleibt für uns zum Schluss zu klären: Hat sich Constantin Schreiber nun für "ttt" tatsächlich beworben?
Auf Nachfrage schreibt er kurz: "Interessanter Bericht. Aber dazu möchte ich mich tatsächlich nicht äußern . . ." Nach einem Dementi klingt das nicht.