Es ist derzeit die Frage der Fragen: Wer wird nächster Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika? Geht es nach der jüngsten Umfrage des ZDF-Politbarometer, glauben 45 Prozent der Deutschen, dass Kamala Harris die US-Wahl gewinnen wird. Mitte Oktober waren es noch 72 Prozent, eine klare Mehrheit und Anlass für den Trump-Apostel Elon Musk, auf seiner Plattform X zu zürnen: "Das passiert, wenn Menschen mit staatlicher Propaganda gefüttert werden."
Man kann das als typisch irren Muskaesken Erguss einfach ignorieren oder freundlich auf die Feinheiten der Umfragemethodik verweisen, so wie es "heute-journal"-Chef Stefan Leifert getan hat.
Oder man zieht jenen Mann und Träger des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis zu Rate, der in seiner nun schon mehr als 30-jährigen ZDF-Karriere auch einmal für das Politbarometer mit zuständig war und wie kein anderer im Sender USA-Expertise hat: Elmar Theveßen.
Seit Februar 2019 leitet der heute 57-Jährige das ZDF-Studio in Washington. Er hat sich, um einen Begriff aus dem Militärbereich zu verwenden, ordentlich muscle memory zugelegt, also Informationen aus Hintergrundgesprächen und Netzwerken abgespeichert, um die Dinge schnell und gut einordnen zu können. Schon bei Joe Bidens knappem Sieg vor vier Jahren war er im Breaking-News-Einsatz. Die Bilder, wie er und sein Kamerateam später beim Sturm aufs Capitol vor Trumps Mob flüchteten, blieben haften.
Wer, wenn nicht er, hat eine Antwort drauf: Trump oder Harris ante Portas? Und was dann? Zerreißt es das Land noch mehr als jetzt schon? Dreht dann auch ein Elon Musk, der ja angeblich Minister unter Trump werden soll, noch mehr durch?
Da sitzt er also am Dienstag vor einer Woche drüben in einem Hotel in Berlin. Hat sich "frech davongeschlichen" von seinem Korrespondentenplatz in der US-Kapitale. Nicht um zu verschnaufen vor der wohl weltweit wichtigsten Wahl in diesem Jahr. Nur ein paar Stunden hat er für den Besuch bei seinem ersten Enkelkind in Ingelheim abgezwackt.
Theveßen ist auf großer Deutschlandtour, ja auf einer Mission: Er will für seine aktuelle Doku "Zwischen Trump und Harris – Roadtrip durch ein zerrissenes Land" (mit David Sauer, siehe ZDF-Mediathek) und die US-Wahlberichterstattung des ZDF trommeln. Ihm geht es aber noch um viel mehr: um nichts weniger als den Erhalt der Demokratie, für die Qualitätsmedien unerlässlich sind.
Am nächsten Tag, erzählt Theveßen, werde er an der Gesamtschule "Herzog Ernst" in Gotha mit Schülern und Lehrern über die US-Wahl und deren Folgen auch für Deutschland und Europa diskutieren. Weitere Reisestopps: die Katholische Akademie in Schwerte, das Amerikainstitut in Heidelberg, ein Podium der Ulmer Presse. Ihnen allen will der Fernsehjournalist aber auch erklären, wie sie beim ZDF arbeiten, "damit ein Verständnis dafür entsteht, was fehlen würde, wenn es keine Qualitätsmedien mehr gäbe und Lügen und Desinformation freie Bahn hätten."
Was in Deutschland in Ansätzen zu sehen sei, habe sich in Amerika bereits zum "größten Problem" entwickelt: Es sind "die wachsenden Nachrichtenwüsten, also Gegenden, in denen Menschen überhaupt keinen Zugriff mehr auf verlässliche Informationen haben, weil die regionalen Medien kaputt gegangen sind". Viele Amerikaner, weiß Theveßen, informierten sich nur noch in ihrer Social Media Bubble oder über "Nachrichtensender, die ihre journalistischen Prinzipien bis zur Propaganda verraten". Das mache sie zu "gefährlichen Brandbeschleunigern".
Und ja, ergänzt Theveßen, auch ein Elon Musk trage massiv dazu bei, das Klima in der Gesellschaft zu vergiften, indem er seine Plattform für einseitige Desinformation missbrauche. Wenn Musk zum Beispiel die Politbarometer-Umfrage richtig gelesen hätte, hätte er gesehen: "Das ist das Wunschdenken der Deutschen. Im Politbarometer steht an keiner Stelle, dass das das Ergebnis einer Umfrage in den USA ist. Insofern schießt Elon Musk auf das falsche Ziel. Sein Tweet zeigt, wie emotional aufgeladen die Stimmung ist."
"Die Gräben sind noch tiefer geworden"
Davon hat sich der ZDF-Korrespondent selbst ein Bild gemacht. Wie schon im Vorfeld der US-Wahl vor vier Jahren zog er mit seinem Team wieder los, auf einen 9000-Kilometer-Roadtrip quer durch 17 US-Bundesstaaten. Mit dem Wohnmobil durchs Land fahren, nach dem Zufallsprinzip mit Menschen ins Gespräch kommen und die Storys erzählen, die man findet: So habe es einst auch sein großes Vorbild Louis Malle in "God’s Country" vorgemacht. Das sei "der wahre Journalismus", sagt Theveßen.
Was er diesmal erlebt habe? "Dass die Gräben noch tiefer geworden sind." Auch die Bereitschaft, möglicherweise zu Gewalt zu greifen, sei gewachsen, weil die jeweilige andere Seite als noch viel größeres Schreckgespenst an die Wand gemalt werde. "Obwohl sich die Rahmendaten des Landes verbessert haben – die Pandemie ist vorbei, die Wirtschaft brummt – ist das Land in Unruhe. Das macht mir Sorgen."
"Zerrissen", "gespalten" oder mit welcher Phrase auch immer der aktuelle Status Quo der USA beschrieben wird: Elmar Theveßen kennt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten noch in einer anderen Verfassung und schon sehr lang.
Bill "it’s the economy, stupid" Clinton war inzwischen an der Macht, die Lewinsky-Affäre erschütterte das prüde Amerika, und Theveßen erlebte, wie er sagt, "den Beginn der Polarisierung". Mit einem der bis dato knappsten Ergebnisse in der Geschichte der USA wurde am 7. November 2000 George Bush Junior zum Präsidenten gewählt, den Theveßen gerne noch länger begleitet hätte. Aber da rief am Freitag vor Weihnachten nachts um vier Berliner Ortszeit sein offenbar schlafloser Chefredakteur Nikolaus Brender an: Er brauche ihn für "Frontal 21". Bedenkzeit bis Sonntag.
Theveßen willigte ein, weil er die anderen Beteiligten, Theo Koll und Claus Richter, kannte. Und weil sie Carte Blanche bekamen, "investigativen Journalismus in eindrucksvoller Form ins Programm zu bringen", aber ohne den Druck, jede Woche einen Scoop liefern zu müssen. Das war und ist dem ZDF-Journalisten wichtig, denn: "Investigativ bedeutet nicht, dass man der erste ist, sondern dass man richtig liegt mit dem, was man berichtet."
Hilferuf aus Mainz
Als Nine Eleven passierte, war Theveßen nicht nur der erste, auf den die ZDF-Kollegen hilfesuchend zukamen. Er lag auch sehr richtig mit seinen Einschätzungen zu dieser Weltkatastrophe, weil er sich bereits in den Jahren zuvor eingehend mit den Aktivitäten des Terrornetzwerks Al-Qaida beschäftigt hatte. Die Arbeit an einem exklusiven Beitrag über Rudolf Scharping, dessen Stuhl als Verteidigungsminister nach einer Reihe von Skandalen (Mallorca, Pool, Liebe . . .) bedenklich wankte, musste pausieren. Theveßen wurde als Terrorismusexperte in der ZDF-Zentrale gebraucht. Und empfahl sich für höhere Aufgaben.
2003 kam der nächste lebensverändernde Anruf rein. Bei Hähnchen und Bier im kultigen "Babbelnit" in Mainz schwatzte Brenders Stellvertreter, Klaus-Peter Siegloch, den "Frontal 21"-Macher in den Job des Nachrichtenchefs rein. Fortan hielt er die Fäden von "heute" über "Mittagsmagazin" bis "heute-journal" zusammen, bis dann 2007 Siegloch den Posten Hauptabteilungsleiter Aktuelles und stellvertretender Chefredakteur für ihn freimachte.
Theveßen nutzte die Hausmacht, um das Thema Online und Social Media weiterzudenken. Heraus kam mit "heute+" etwas völlig Neues, was es auf dem deutschen Fernsehmarkt so noch nicht gab. Es war ein neuer, junger Ton in der Nachrichtenberichterstattung, der die Kritik der Zuschauer mit einbezog, sich aber nur etwas mehr als fünf Jahre im Programm hielt, was Theveßen bis heute betrauert. Als "heute+" im Juni 2020 eingestellt wurde, war er allerdings längst weg aus Mainz, zurück in Washington zum zweiten Turn als Korrespondent.
Seinen Aufstieg in der ZDF-Hierarchie hatte er damit, tja, was denn: beendet oder nur unterbrochen?
Festlegen will sich Theveßen da nicht. Sein selbstgewählter Abschied aus der ZDF-Hierarchie Richtung USA hätte auch rein gar nichts mit Peter Frey zu tun gehabt (wie geschrieben wurde), auch wenn er und Frey bis heute nicht "dickste Freunde" seien. Die "Leidenschaft für Amerika" habe sich halt bei ihm wieder Bahn gebrochen: "Nach zwölf Jahren im Verwaltungsbereich wurde es höchste Eisenbahn, wieder rauszukommen und das zu tun, was der Kern von Journalismus ist: Geschichten von Menschen für Menschen zu erzählen."
Andererseits: Theveßen ist ja nicht nur Idealist. Seine Chance, im ZDF noch etwas Höheres zu werden, also Chefredakteur oder Intendant, schätzte er realistischerweise als eher gering ein, auch weil, seine Worte: "Ich war als Terrorismusfritze abgestempelt. Nur so kannte man mich." Dass er als Vize-Chefredakteur mit dafür gesorgt hatte, dass sich das ZDF modernisiert trotz zehn Prozent weniger Personal sei in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen worden. Insofern war sein Gedanke: "Ist doch gar nicht schlecht, wenn ich das Image hinter mir lassen und in Amerika ein neues aufbauen kann. Das hat wunderbar funktioniert."
In der Tat, insbesondere bei Markus Lanz. Weiß Gott wie oft (Theveßen selbst weiß es nicht) schaltete der ZDF-Talker den USA-Experten aus Washington zu, zuletzt in seiner 2000. Sendung zu einem nachsehenswerten Korrespondenten-Gipfel zur US-Wahl.
Und dennoch: Dass sich Mainz karrieremäßig zu einer Sackgasse entwickelt hatte, schien Theveßen nachhaltig zu wurmen. Oder wie lässt sich sonst erklären, dass der "profilierte Außenseiter" in diesem Sommer Nachfolger von WDR-Intendant Tom Buhrow werden wollte?
Die Sache mit der WDR-Bewerbung
Theveßen sagt, seine Hauptmotivation sei gewesen: "Es geht ums große Ganze für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland. Da hatte ich das Gefühl, ich kann aus meiner Erfahrung heraus etwas dazu beitragen, ihn zu erhalten und auch so umzugestalten, damit er langfristig gesichert ist." Denn er sehe ja in Amerika, was passiert, wenn es keinen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt. PBS und NPR, das zwischen den Polen Fox News/Newsmax und CNN/MSNBC sendende Public Television, hätten längst nicht die Tiefenwirkung wie hierzulande ARD und ZDF.
Hinzukam: Der WDR ist gewissermaßen Theveßens Heimatsender, weshalb eine Bewerbung für ihn "Sinn" ergab. Er, der 1967 in die Familie eines Möbelkaufmanns in Viersen geboren wurde, wuchs mit "Hallo Ü-Wagen" und Carmen Thomas auf, machte ein Praktikum bei "Guten Morgen aus Düsseldorf". Und obwohl er die meiste Zeit woanders gelebt hat, bezeichnet er Nordrhein-Westfalen als seine Heimat, was man ihm, by the way, anhört: Meenzern, Bärlinern und Washingtonians ist es nicht gelungen, ihm die niederrheinische Sprachfärbung abzugewöhnen.
Dass es am Ende mit dem WDR-Posten nicht klappte, speichert Theveßen als "eine Erfahrung" ab. Er werde jetzt aber "nicht bei jeder neuen freiwerdenden Intendantenstelle die Hand heben". In Jobnöten ist er ohnehin nicht. Noch bevor sich die Chance beim WDR auftat, war die Verlängerung seines ZDF-Vertrags um drei weitere Jahre vereinbart.
Theveßen behält also noch bis Februar 2027 das Kommando in Washington. Besonders das Jahr 2026 verspricht spannend zu werden: Die USA feiern ihr 250stes Bestehen und tragen die Fußballweltmeisterschaft aus. Und möglicherweise werden diese Höhepunkte aus Berichterstatter-Sicht noch einmal aufregender unter einem regierenden Präsidenten Trump?
Theveßen lacht, "ja, schon". Er zählt sich allerdings nicht zu jenen Kollegen, die in vier weiteren Trump-Jahren mutmaßlich voller Chaos und Skandale höheren Reiz sehen als bislang unter Sleepy Joe. Die Berichterstattung würde auf jeden Fall "sehr anspruchsvoll" werden, weil man nicht über jedes Stöcken springen sollte, was Trump hinhält, findet der ZDF-Journalist und appelliert an das Journalistenethos: "Wenn wir das journalistische Geschäft als etwas definieren, das nur dann Spaß macht, wenn wir Erregung erhöhen können, haben wir unseren Beruf nicht verstanden." Dieser bedeute vielmehr, über Hintergründe und Zusammenhänge aufzuklären, damit die Menschen politisch informierte Entscheidungen treffen können.
Mögliche Trump-Auswirkungen
Die wirklich spannende Frage ist für Theveßen deshalb: "Was passiert mit der demokratischen Demokratie, wenn Donald Trump wieder Präsident wird?"
Die Antwort gibt er gleich selbst: "Dann könnte sich Amerika in ein autoritäres Regime verwandeln. Was dann auf dem Spiel steht und kaputt geht auch im Rest der Welt, müssen wir immer und immer wieder klarmachen."
Es könnte nicht zuletzt Konsequenzen für den ZDF-Studioleiter selbst haben. Er befürchtet nämlich, dass Trump einen Plan aus der ersten Amtszeit wieder aus der Schublade zieht, der den US-Aufenthalt von ausländischen Journalisten deutlich verkomplizieren würde.
Demnach soll die Dauer der "I-Visa" von bislang fünf Jahren auf künftig nur noch acht Monate verkürzt werden. Sollte das Vorhaben umgesetzt werden, wäre es das Ende von kontinuierlicher ausländischer Berichterstattung über die USA. Denn, so fragt Theveßen zurecht: Wie will man sich intensiver in die Materie einarbeiten und mit der Familie in die amerikanische Gesellschaft einleben, wenn man nach ein paar Monaten wieder rausfliegt? Und wenn man dann auch noch bei der Visumverlängerung vom Goodwill des Heimatschutzministeriums abhängig ist, dann sind die USA "quasi auf dem Niveau wie in China, Iran oder Russland".
So gesehen: Ist doch klar, wer die US-Wahl gewinnen muss.