Intern wie extern hat der Hessische Rundfunk vor rund einem Monat mit seiner neuen "Radiostrategie" für Erstaunen gesorgt. Geplant sind deutliche und spürbare Einschnitte im Programm, um den Radioprogrammen "eine langfristige Perspektive" zu geben. Konkret geht es zum Beispiel darum, dass der Fokus bei HR1 und HR4 auf den Morgensendungen liegen soll. Die HR1-Programme am Mittag und Nachmittag, die laut jüngster Media-Analyse um die 200.000 Personen in der Durchschnittsstunde erreichen, würden dann zweitrangig werden. Hinter dem Verbleib des jungen Programms von YouFM steht seit Mitte Juni sogar ein großes Fragezeichen – im Falle einer eigenständigen Weiterführung müssten die Kosten deutlich sinken, denkbar ist auch eine Kooperation mit einem anderen jungen ARD-Programm. Der Gesamtpersonalrat zeigte sich wenig erfreut, der HR kündigte interne Gespräche an. Hört man sich bei den anderen großen ARD-Anstalten um, ist in erster Linie Schadensbegrenzung – einerseits für die ARD, andererseits für die Gattung – zu vernehmen. Aus den Reihen der großen Privatsender kommt indes teils sogar Applaus für die HR-Pläne.



Doch auch innerhalb der ARD gibt es Stimmen, die bestätigen, dass die aktuellen Einschnitte nicht zwingend vergnügungssteuerpflichtig sind. Anke Mai, beim SWR Programmdirektorin der Bereiche Kultur, Wissen und Junge Formate, sagt: "Weil Radio nach wie vor so ein wichtiger Ausspielweg ist, ist jeder Einschnitt daran schmerzhaft. Durch die Vielfalt und die damit auf die verschiedenen Zielgruppen zugeschnittene Ansprache kommen wir unserem gesetzlichen Auftrag nach, nämlich der Förderung von freier und demokratischer Meinungsbildung, sowie der Sicherung von Meinungsvielfalt in allen Altersgruppen. Klar ist, dass Budgetkürzungen für Unsicherheit sorgen und die Gefahr besteht, dass wir diesem Auftrag nicht mehr so umfassend nachkommen können. Wir verstehen aber auch, dass wir auf allen Ausspielwegen ein Angebot für unsere Nutzer*innen machen müssen, um möglichst viele Menschen zu erreichen." Auch deshalb müssten Mittel umgeschichtet werden. Die großen ARD-Anstalten abseits des Hessischen Rundfunks haben dennoch gegenüber DWDL.de unisono verneint, an ähnlichen Plänen zu arbeiten – abgesehen von denen, die schon kommuniziert sind.

So ist ja schon seit Monaten bekannt, dass der SWR etwa ab 2025 ein für alle ARD-Popwellen hergestelltes gemeinsames Abendangebot umsetzen wird. Wer es abnehmen will, kann dies dann tun. Auch soll es mehr gemeinsame Sendungen der jungen Wellen und gemeinschaftlich umgesetzte Podcasts geben. Die Infowellen senden bereits seit wenigen Monaten ein gemeinsames Abendprogramm, ein vernetztes Schlagerangebot ist in Planung, auch Klassik- und Kulturwellen werden mitunter abends zusammengeschaltet. So ist vom WDR zu hören: "1 Live ist uns wichtig". Der Sender betonte, dass die Marke für die Menschen im Sektor, so heißt NRW im 1Live-Slang, eine "Love Brand" sei.

WDR-Programmdirektorin für NRW, Wissen und Kultur, Andrea Schafarczyk, sagte zu DWDL: "Stand heute nutzt die junge Zielgruppe - mit Blick auf lineare Reichweiten - definitiv auch das Radio. Unsere Prämisse ist es, auch im jungen Segment dort zu sein, wo unsere Nutzer:innen sind. Und genau das machen wir mit 1 Live im Sektor. Weil die Mediennutzung und die Nutzer:innen sich verändern, entwickeln wir 1 Live als Medienmarke kontinuierlich weiter." Ganz konkret bedeute das derzeit auch, "dass wir Teil der ARD-Reform sind und gemeinsam mit den anderen Jungen Wellen der ARD überlegen, wie wir das junge Segment stärken und weiter für die Zukunft aufstellen können."

Beim BR bestätigt man zwar eine Beteiligung am generellen ARD-Reformprozess, teilt aber auch mit, dass die neue Arbeitsteilungin den einzelnen Häusern Ressourcen freisetze für neue digitale Angebote, mit denen auch künftig alle Zielgruppen zuverlässig erreicht werden sollen. Mit dem jungen BR-Radio BR Puls, das erst vor nicht allzu langer Zeit umgestaltet wurde, sei man in München beim BR "sehr zufrieden", heißt es in einer Stellungnahme. "Zusätzlich zu den erfolgreichen Digitalprodukten hat PULS Radio die Aufgabe, musikalische Newcomer und den personellen Nachwuchs zu fördern", schreibt der BR und erklärt obendrein  "Durch das Zusammenspiel von starken Digitalprodukten, Radio und Events wie dem Puls Open Air, das gerade Anfang Juni erst wieder 8.000 Gäste begeisterte, gelingt es sehr gut, die junge Zielgruppe zu erreichen."

Auch beim NDR mit seinen vier zentralen Radioprogrammen NDR 2, N-JOY, NDR Info und NDR Kultur sowie seinen vier Landesprogrammen für Niedersachen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg sollen keine so tiefgreifenden Einschnitte anstehen. "Diese Radioprogramme sind wichtig; es gibt keine Pläne, sie nicht mehr als Vollprogramme anzubieten oder einzustellen", heißt es gegenüber DWDL.de. Als "uneingeschränkt ein verlässlicher, starker und exzellenter Alltagsbegleiter" bezeichnet derweil Anke Mai die von ihrer Anstalt umgesetzten Programme. Der SWR erreiche mit dem Medium Radio weiterhin die meisten Menschen, sagt sie – nämlich 6,42 Millionen. Mit neuen Ausspielwegen experimentieren sie in der Tat alle - nicht nur die ARD-Radios, sondern seit Jahren auch schon die werbefinanzierten Anbieter. 

Privatradioanbieter können HR-Strategie nachvollziehen

Von den HR-Plänen am unmittelbarsten betroffen sein dürfte Marco Maier. Er lenkt die Geschicke von FFH, das seinen Kernmarkt ebenfalls in Hessen hat. Maier ist zudem stellvertretender Vorsitzender des VAUNET-Vorstands und leitet dort auch den Fachbereich Radio und Audiodienste. Zu DWDL.de sagt er:  "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat die Aufgabe, seine Häuser zu konsolidieren, zu straffen und zukunftsfest zu machen. Ich glaube, dass der HR seine Radiolandschaft in erster Linie klarer aufstellen und effizienter machen wird. Solange dies im Sinne des Auftrags passiert, den der öffentlich-rechtliche Rundfunk erfüllen muss, kann ich nichts dagegen haben."

Als "nachvollziehbar und richtig" bezeichnete indes Holger Paesler, Geschäftsführer des Verbands Arbeitsgemeinschaft Privater Rundfunk (APR), die HR-Pläne. Paesler antwortete im Auftrag von Felix Kovac, dem Verbandsvorsitzenden und Antenne Bayern-Chef. "Anders als in den Gründungsjahren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gibt es heute eine Vielzahl an privaten Medienangeboten über viele analoge und digitale Ausspielwege hinweg, die vielfaltsmehrend sind und so muss auch das Angebot des HR nachvollziehbar neu betrachtet werden. Aus unserer Sicht sollte daher der HR sich bei allen Aktivitäten auf den Kern des öffentlich-rechtlichen Auftrags beziehen und besonders im Radio mit Veränderungen bei den mit den private Radioanbietern austauschbaren Mainstreamwellen ansetzen", sagt Paesler.

FFN-Chef Harald Gehrung bezeichnete die HR-Pläne als alternativlos. Zu DWDL sagte der Radio-Macher: "Ein bekannter EU-Kommissar und ehemaliger Ministerpräsident aus Baden-Württemberg sagte mal „we are all sitting in the same boat“. Dies trifft auch auf alle klassischen Medien wie Tageszeitungen, Fernsehen und Hörfunk zu. Egal ob öffentlich-rechtlich oder privat finanziert. Angesichts der veränderten Mediennutzung der Menschen – jüngere Leute nutzen v.a. nicht lineare Medien wie Spotify  –  haben öffentlich-rechtliche und private Sender gar keine andere Möglichkeit, als Kosten zu sparen und Synergien zu bilden."

Sogar als "dringend notwendig" bezeichnete Kai Fischer, Geschäftsführer der Audiotainment Südwest (Regenbogen, Rock FM, RPR1, Big FM) die HR-Audiopläne. Und auch Carsten Hoyer, Boss von Antenne Niedersachsen, bläst in dieses Horn – nicht zuletzt auch, weil "bei der ARD vieles doppelt und dreifach produziert" produziert werde. Fischer und Hoyer spielen zudem auch auf die Vielzahl an ARD-Hörfunk-Angeboten an. "Die über 70 öffentlich-rechtliche Radioprogramme stehen deutschlandweit im Wettbewerb mit den privaten Radioveranstaltern und machen sich auch untereinander Konkurrenz", sagt Hoyer und Fischer erklärt: "Aber die letztendliche verbleibende Anzahl aller öffentlich-rechtlicher Programme sagt nichts über die Anzahl der in den Ländern zu empfangenen öffentlich-rechtlichen Hörfunkprogrammen aus. Es muss darauf geachtet werden, dass die verbleibenden öffentlich-rechtlichen Hörfunkprogramme künftig nicht auch in den Bundesländern ausgestrahlt werden, wo sie bisher gar nicht zu hören waren."

 

Die notwendige Konsolidierung, die der HR jetzt angekündigt hat, haben die privaten Häuser schon längst hinter sich. Marco Maier

 

Die Herangehensweise von HR-Intendant Florian Hager nannte Marco Maier "offensiv und realistisch", er wollte zudem aber klar stellen, dass er jedoch deshalb "keine Vorteile" für sein Haus sehe. "Die notwendige Konsolidierung, die der HR jetzt angekündigt hat, haben die privaten Häuser schon längst hinter sich", so der FFH-Geschäftsführer. In der Tat scheint es aber ein wenig so, als würde die Kommunikation nicht unbedingt auf die Attraktivität der Gattung an sich einzahlen. Zumindest zu befüchten steht, dass die schon seit Jahrzehnten vorgetragenen Abgesänge auf das Medium Radio damit tendenziell lauter werden.

In diesem Punkt wollen die Radio-Manager aber nicht mitgehen. "Es wird sicherlich mittelfristig zu einer Konsolidierung kommen. Andererseits gibt es aktuell so viel Auswahl wie noch nie. Nie gab es mehr terrestrische Sender und Online Audio Angebote, wie heute", zählt Harald Gehrung auf und auch Paesler wirbt für seine Gattung: Sie "ist und bleibt weiterhin einer der reichweitenstärksten Kommunikations- und Vertriebskanäle. Kein anderes Medium erreicht schneller und effektiver große Hörerzahlen. Die verschiedenen Programmformate decken auch verschiedene Zielgruppen ab, u.a. auch Hörer unter 50, zumal über verschiedene Distributionswege hinweg wie UKW, DAB oder das Internet, inklusive Smart Speaker und Benutzeroberflächen. Wir müssen daher darauf achten, dass hier nicht der Eindruck entsteht, Radio ist ein Medium für die Alten ohne Perspektive; nach wie vor nutzen mehr als die Hälfte der Bevölkerung in allen Altersgruppen das Medium Radio."



Für Carsten Hoyer ist indes klar, dass sich die ARD derzeit "sechs Schlagerwellen, sechs Kulturprogramme, zwei Klassikwellen, sieben Inforadios und 13 Jugendradios" leisten würde – neben den Programmen des Deutschlandradios. "Wenn der HR jetzt vorangeht, ist das ein Schritt in die richtige Richtung und nicht der Abgesang auf unsere Gattung.“ In den Augen von Marco Maier vollzieht der ARD nun ohnehin nur Schritte, die bei Privatsendern längst schon passiert sind. "Eine effiziente Aufstellung, Konzentration auf die Produkte, die funktionieren und der konsequente Weg der Digitalisierung sind in der Privatwirtschaft stetig laufende Prozesse. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss diesen Weg immer mit Blick auf seinen Auftrag gehen und stärker als bisher auch in den Mainstream-Wellen ausgewogen Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung anbieten. Wenn dies geschieht, wird das auf die Vielfalt und Attraktivität der Gattung Radio insgesamt einzahlen." Auch FFN-Chef Harald Gehrung sagt zur Zukunft der Gattung Audio: Die Nutzung von Audio werde auch künftig eine zentrale Rolle spielen. "Wenn eben auch nicht immer linear."