Das Privatfernsehen hat ein Problem. Weil die Gesellschaft immer älter wird und die Jüngeren inzwischen lieber streamen als auf die lineare TV-Ausstrahlung zu warten, sind Millionen-Reichweiten in der einst erfundenen "werberelevanten Zielgruppe" der 14- bis 49-Jährigen längst die Ausnahme geworden. Neu ist das Dilemma nicht: Schon vor über zehn Jahren wurde in der Fernsehbranche über eine Erweiterung der Zielgruppen-Definition diskutiert. Erst stand 20-59 im Raum, wenig später sollte dann 14-59 die Lösung sein.
Doch auch wenn RTL in seiner Kommunikation seither überwiegend auf diese Zielgruppe verwies - wirklich durchgesetzt hat sie sich bis heute nicht, was auch daran liegt, dass es vor dem Hintergrund immer neuer Spartensender schlicht nicht mehr die eine Zielgruppe gibt. Dazu kommt, dass selbst intern meist über 14-49 gesprochen wurde, wenn es um die Erfolge und Misserfolge des Vortages ging. Und weil mit RTL Deutschland nur eine der beiden großen Privatsender-Gruppen den Fokus auf 14-59 legte, blieb die ganz große Quoten-Revolution bis heute aus. Das ist auch der Grund, weshalb in der Branchenberichterstattung, wie sie DWDL.de betreibt, neben den Gesamtzahlen weiterhin vor allem die klassische Zielgruppe betrachtet wird.
Im Gespräch mit DWDL.de verweist Schmitter auf "fundamentale Änderungen im Markt und in der Nutzung", sieht sich mit RTL aber gut aufgestellt - auch, weil es seiner Auffasung nach gelingt, über den deutlich jünger positionierten Streamingdienst RTL+ viele Verluste aufzufangen. "Mit RTL und RTL+ haben wir für diese unterschiedlichen Zielgruppen jeweils passende Angebote, über die die Formate begeistert geschaut werden", betont Schmitter und verweist auf Formate wie "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus", den "Bachelor" oder "GZSZ". In Summe würden viele Sendungen heute mehr Menschen zwischen 14 und 59 erreichen als in den Jahren zuvor. Von einem "größeren, ganzheitlicheren Anlauf, die Akzeptanz der Zielgruppe 14-59 im Markt voranzubringen", ist die Rede. Helfen sollen dabei auch die neuen konvergenten Daten der AGF, die ab diesem Jahr "eine noch bessere und umfassende gemeinsame Betrachtung von TV und Streaming" ermöglichen sollen.
"Wunsch nach Ausweisung größerer Nutzungszahlen"
Mehr als in der Vergangenheit wird der veränderte Zielgruppen-Fokus Auswirkungen auf das Programm haben. So sollen neue wie bestehende Sendungen verstärkt mit Blick auf ältere Zuschauerinnen und Zuschauer ausgerichtet werden. "Basierend auf dieser positiven Entwicklung fokussieren wir ab 2023 alle Unterhaltungs- und Newsredaktionen einheitlich auf die breite Zielgruppe 14-59 und gehen somit als größter streamender Broadcaster noch zielgerichteter und ganzheitlicher vor", kündigt Stephan Schmitter an. Die Redaktionen sollen also umsetzen, was von der Senderspitze beschlossen wurde. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass im linearen RTL-Programm für allzu jung ausgerichtete Formate künftig eher kein Platz mehr sein wird, weil es vor allem die über-40-Jährigen braucht, um nennenswerte Reichweiten zu erzielen. Im Gegenzug sollen Shows wie "Prominent getrennt", die linear zwar nicht funktionierten, aber bei RTL+ erfolgreich waren, konsequenter als bisher ins Streaming verlagert werden.
Bemerkenswert ist allerdings, dass sich RTL in der neuerlichen Zielgruppen-Debatte als Einzelkämpfer positioniert. Gespräche mit der AGF, Mitbewerbern, Werbekunden oder Agenturen seien nicht geführt worden, bestätigt Stephan Schmitter im Gespräch mit DWDL.de. Er sei sich jedoch sicher, "dass die Mitbewerber die schwindende Relevanz von 14-49 für das lineare TV auch auf dem Schirm haben", sagt er. "Nicht zuletzt wegen des Durchschnittsalters ihrer Sender, das nahe an den 50 oder deutlich darüber liegt. Auch die Tatsache, dass sich der ein oder andere Mitbewerber immer häufiger mit der weniger aussagekräftigen Nettoreichweite 3+ anstatt der marktüblichen Sehbeteiligung behilft, um seine 14-49 Marktanteile bedeutender wirken zu lassen, unterstreicht den Wunsch nach Ausweisung größerer Nutzungszahlen."
Als "privater Marktführer und Anbieter der größten deutschen Streamingplattform" wolle man "jetzt konsequent" vorangehen, so Schmitter. "Zumal die allermeisten Werbekunden auf produktspezifischen Zielgruppen planen, die auch langsam etwas älter werden, also den demographischen Wandel abbilden. 14-59 ist daher eine wichtige Referenzzielgruppe im Werbemarkt." Unklar ist jedoch bislang, inwiefern man das auch in Unterföhring so sieht. Tatsache ist, dass Sat.1 schon jetzt regelmäßig auf die 14- bis 59-Jährigen schaut, das deutlich jünger ausgerichtete ProSieben im Falle einer neuen Zielgruppen-Definition aber zu den großen Verlierern gehören würde. Gleichwohl sucht Doppel-Senderchef Daniel Rosemann auch für ProSieben längst nach Formaten, die vermehrt das Ü40-Publikum ansprechen.
Doch die Umstellung auf 14-59 könnte auf Dauer auch bei RTL zu einer veränderten Wahrnehmung führen: War es der Kölner Privatsender seit Jahrzehnten gewohnt, Marktführer in der klassischen Zielgruppe zu sein, so ging der Spitzenplatz in der erweiterten Zielgruppe im Vorjahr knapp an das ZDF. "Genau das zeigt doch, wie ernst wir den demografischen Wandel nehmen", erwidert Stephan Schitter. "Es geht nicht darum, sich die Welt schönzurechnen, sondern die Realität bestmöglich abzubilden." Gleichzeitig verweist der RTL-Manager auf einen "guten Job" der Konkurrenz sowie diverse Sport-Hits, die die Öffentlich-Rechtlichen 2022 im Programm hatten - von Olympia über die European Championships bis hin zur Fußball-EM der Frauen und Fußball-WM der Männer. "Von daher", sagt Schmitter, "können wir das enge Rennen in den diesjährigen Top 3 ganz gut einordnen."
Konkrete Marktanteils-Ziele für 2023 will Stephan Schmitter unterdessen mit Blick auf das neue Jahr noch nicht nennen. "Wir basteln im Rahmen der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen noch an weiteren Highlights für unser Programm in 2023", erklärt er gegenüber DWDL.de. "Aber so viel kann ich verraten: Wir werden hart arbeiten, um wieder die Marktführerschaft 14-59 zu erreichen. Und wenn das klappt, müssten wir auch weiterhin deutlich vor allen anderen Sendern bei den jungen linearen Zuschauerinnen und Zuschauern liegen."