Dass führende ARD-Vertreter am Donnerstagabend in Frankfurt an einem medienpolitischen Tabu rütteln würden, war nicht unbedingt absehbar. Nach coronabedingt längerer Pause hatte die Vermarktungstochter ARD-Werbung Sales & Services (AS&S) ihre Top-Werbekunden wieder zur alljährlichen "ARD-Medienlese" geladen. Normalerweise werden dort zum Vier-Gänge-Menü leicht verdauliche Erfolgsmeldungen von AS&S-Chefin Elke Schneiderbanger und Ausblicke auf kommende Programmhighlights des Ersten serviert.

Die spielten diesmal nur eine Nebenrolle. Zwischen Tomaten-Carpaccio und Rehrücken im Luxushotel Villa Kennedy kündigte sich der eigentliche Hammer an, als Schneiderbanger nonchalant zwei Tortendiagramme zur Werbeakzeptanz aus der jüngsten ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation vorführte: 73 Prozent der Deutschen finden Werbung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen demnach okay, und – man höre und staune – 59 Prozent fänden Werbung in den Mediatheken von ARD und ZDF okay, wenn es sie denn gäbe.

Die Chefvermarkterin ließ die Zahlen zunächst unkommentiert stehen, ohne extra zu erwähnen, dass den Öffentlich-Rechtlichen jegliche Form von Werbung auf digitalen Plattformen – anders als in TV und Radio –gesetzlich verboten ist. Den Stab nahm sodann der scheidende Intendant des Hessischen Rundfunks, Manfred Krupp, auf, der nach einer umfassenden Würdigung des Bundesverfassungsgerichts und seines Rundfunkbeitragsurteils ("Uns wurde bescheinigt: Wir sind unverzichtbar!") zur Sache kam: Die Zukunft liege immer mehr im Digitalen und in der zeitunabhängigen Nutzung von Video und Audio; das größte Wachstum verzeichne man hier inzwischen nicht mehr bei den ganz Jungen, sondern in den mittleren Altersgruppen.

ARD-Medienlese 2021 / Manfred Krupp © AS&S "Wüste im Digitalen": HR-Intendant Manfred Krupp wirbt bei Kunden und Agenturchefs um Einsatz
Für die öffentlich-rechtliche Werbung, konstatierte Krupp, werde es als Folge dieser Entwicklung immer schwieriger: "Im linearen TV nimmt die Werbung ein Prozent unserer täglichen Sendezeit ein, im Digitalen herrscht Wüste. Das muss einen beschäftigen, denn wenn die Werbung perspektivisch abnimmt, muss der Beitrag entsprechend steigen." Laut Krupp läge der Rundfunkbeitrag schon heute bei mindestens 20 Euro, wenn ARD und ZDF werbefrei wären. Seine mittelfristige Überlegung: Die Politik könne ihr Ziel der Beitragsstabilität nicht halten, wenn mit dem Rückgang der linearen Nutzung auch die Werbung wegfalle.

 

"Sie sollten sich dafür einsetzen, dass Sie bei uns auch in der Mediathek und in der Audiothek werben dürfen"
Manfred Krupp, HR-Intendant

 

"Sie sollten sich dafür einsetzen", empfahl Krupp den anwesenden Werbekunden und Agenturchefs, "dass Sie bei uns auch in der Mediathek und in der Audiothek werben dürfen, wenn Sie weiterhin Menschen erreichen wollen, die Qualität suchen und denen Gemeinwohl am Herzen liegt. Wir sind da eher schüchtern und zurückhaltend, wie es unsere Art ist. Aber Sie können das zum Thema machen." Alexander Bommes, der durch den Abend führte, moderierte den Aufruf des Intendanten mit einem Seitenhieb ab: "Ihr Vortrag wurde soeben eigenmächtig von Bild TV übertragen und anschließend von Paul Ronzheimer, Thomas Gottschalk und Dolly Buster analysiert."

Dass die ARD das medienpolitisch heikle Fass zum jetzigen Zeitpunkt aufmacht – so kurz nachdem das Verfassungsgericht die Beitragserhöhung durchgewunken hat –, kommt durchaus überraschend. Andererseits fand sich am Abend spontane Zustimmung. So sagte etwa Jens-Uwe Steffens, Pilot-Inhaber und Vorstandsmitglied der Organisation der Mediaagenturen (OMG), gegenüber DWDL.de, die OMG werde sich für das Ziel einsetzen, weil man dringend mehr Reichweite und mehr qualitativ hochwertiges Digital-Inventar brauche. Da seitens der Medienpolitik bislang keine Signale erkennbar waren, die für eine Liberalisierung der öffentlich-rechtlichen Werberichtlinien sprechen, sind nun wohl heftige Grundsatzdebatten vorprogrammiert.

Vergleichsweise unspektakulär verlief unterdessen der erste Auftritt der neuen ARD-Programmdirektorin Christine Strobl vor den Werbekunden. Während ihr Vorgänger Volker Herres die Medienlese gern für raumgreifende Vorträge nutzte, begnügte Strobl sich damit, im kurzen Talk mit Bommes fünf Programmhighlights für die Weihnachtszeit und den Jahresanfang 2022 zu erwähnen: die Sechsteiler "Eldorado KaDeWe", "Euer Ehren" und "Ein Hauch von Amerika", die Impro-Serie "Das Begräbnis" sowie Maria Schraders Oscar-Kandidat "Ich bin dein Mensch", den Strobl am 22. Dezember im Ersten programmiert.