Der ehemalige "Spiegel"-Journalist Claas Relotius hat sich in einem Interview mit dem Schweizer Magazin "Reportagen" zu Wort gemeldet und darin über die Gründe für die systematischen Fälschungen in seinen Artikeln gesprochen. Vor rund zweieinhalb Jahren flog der Skandal auf: Relotius hatte über Jahre hinweg Texte gefälscht, die im "Spiegel" und anderen Blättern erschienen waren. Beim "Spiegel" hatte der Vorfall auch personelle Konsequenzen, Ullrich Fichtner wurde damals doch nicht in die Chefredaktion berufen - bei der Aufarbeitung des Falls wurde auch deutlich, dass die Aufklärung zu langsam ging.
Und während der Name Relotius mittlerweile quasi ein Synonym für eine Fälschung ist, zog sich der Journalist aus der Öffentlichkeit zurück. Relotius gab nach dem Auffliegen des Skandals erworbene Journalistenpreise zurück und hielt sich mit öffentlichen Aussagen zurück - bis jetzt. Im Interview mit dem Schweizer Magazin "Reportagen" räumt Relotius jetzt ein, dass vermutlich nur "die allerwenigsten" seiner Artikel korrekt gewesen seien. "Ich hatte jahrelang nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen", sagt Relotius, der in dem Interview außerdem zu Protokoll gibt, dass ihm die ganze Sache "aufrichtig leid" tue. Er habe in der "unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht." Er habe nie niederträchtige Absichten gehabt oder habe jemanden verletzen wollen, so der ehemalige Journalist.
Auch für "Reportagen" war Relotius übrigens tätig, mit einem Text für das Magazin gewann er 2013 den Deutschen Reporterpreis. Relotius befand sich nach der Aufdeckung des Skandals für mehrere Monate in stationärer psychiatrischer Behandlung, während dieser Zeit habe er auch die Redaktion kontaktiert, um sich zu entschuldigen, informiert "Reportagen" im Vorfeld des Interviews. Erst im vergangenen Sommer sei es zu mehreren Treffen gekommen. Man habe durchaus Zweifel gehabt. "Wie begegnen wir einem, von dem nicht nur wir über Jahre hinweg getäuscht wurden, mit der nötigen journalistischen Distanz? Was kann man jemandem, der so viel gelogen hat, noch glauben?", schreiben die Journalisten von "Reportagen". Man habe dann aber das getan, was den Beruf ausmache: Zuhören, Nachfragen und Recherchieren. Nach eigenen Angaben habe man mit dem behandelnden Psychiater und Therapeuten gesprochen sowie einen Einblick in psychiatrische Berichte erhalten.
In dem Interview geht es auch lange um die damalige psychische Verfassung von Relotius. "Das hemmungslose Schreiben hatte für mich eine ganz egoistische Funktion. Es hat mir geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug zur Realität verloren habe, zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir fernzuhalten. Schon lange vor dem Journalismus", sagt Relotius, der zudem einräumt, den Beruf auf seine Art von Anfang an "missbraucht" zu haben. Je größer seine Verunsicherung gewesen sei, desto perfekter seien die Texte geworden, so Relotius. "Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten, und stand beim Schreiben auch nie vor der Frage, ob ich das so machen kann." Er habe das "offensichtlich Falsche nicht nur verdrängt, sondern vollständig ausgeblendet", so Relotius.
Dass er fälschte, um Karriere zu machen, weist Relotius in dem Interview zurück. Wenn es ihm um seine Karriere gegangen wäre, dann hätte er "nicht immer wieder und bis ganz zuletzt Aufstiegsmöglichkeiten, die die meisten Journalisten angenommen hätten, ausgeschlagen". Relotius weiter: "Wenn es mir um Journalistenpreise gegangen wäre, hätte es genügt, in sechs prestigeträchtigen Reportagen gezielt zu erfinden, nicht wahllos in 60 und nie in diesem Ausmaß. Ich habe immer wieder wahnsinnig dumme und irrationale Dinge getan."
Kein Interesse an einer Verfilmung
Bleibt die Frage, wieso sich Relotius nun äußert. Er könne das Geschehene nicht wiedergutmachen, aber versuchen zu erklären, dass sein Handeln mit persönlichen Fehlern zu tun habe - und nicht etwa mit systematischen Verfehlungen in der gesamten Branche. Auf die Frage, ob es ihm nicht vielmehr darum gehe, das öffentliche Bild über ihn zu korrigieren, antwortet Relotius: "An dem, was ich getan habe, gibt es nichts zu korrigieren, es liegt alles da. Aber ich bin Antworten schuldig. Und ja, ich möchte auch versuchen zu erklären, warum ich das getan habe."
Nach dem Auffliegen der Fälschungen kündigten unter anderem die UFA und Netflix Verfilmungen der Geschichte an. Relotius ging aber offenbar auf keine Angebote ein. Er sagt, der "Spiegel" habe den Fall sachlich aufgeklärt. "Ich habe anderen konkreten Schaden zugefügt und möchte hiermit auch öffentlich dafür geradestehen. Dass wieder andere damit nun Geld verdienen und unterhaltsame Bücher und Filme produzieren, ist klar. Ich sehe keinen Grund, da mitzumachen. Für mich geht es hier um mein Leben."