Die Resonanz im Markt auf die neuen monatlichen Streaming-Hitlisten der AGF ist zwiegespalten. Auf Kritik stößt vor allem der fehlende Bezug zur Nutzungsdauer. Der Verband der Werbekunden sieht "keine Aufweichung, eher eine Ergänzung".
Welche TV-Sendungen im April die höchsten Streaming-Reichweiten erzielen konnten, hat die AGF Videoforschung am Montag erstmals in Form von Hitlisten veröffentlicht, die künftig jeden Monat erscheinen sollen (DWDL.de berichtete). Dabei wird nicht die sonst vom TV geläufige Währung der durchschnittlichen Sehbeteiligung mit Bezug zur Nutzungsdauer ausgewiesen, sondern die Nettoreichweite all jener Personen, die im TV oder beim Streaming mindestens eine Sekunde der jeweiligen Sendung gesehen haben. Das Medienmagazin DWDL.de bewertete dieses Vorgehen in einem Kommentar als "verheerendes Signal" und bescheinigte den Zahlen "null Aussagekraft".
Die Diskussion im Markt verläuft am Tag danach uneinheitlich. Vor allem aus dem Lager der Sender, die Gesellschafter der AGF sind, erfahren die neuen Hitlisten überwiegend die erwartbare Zustimmung. Bemerkenswert ist vielmehr, dass manche Sender und deren Vermarkter auf Nachfrage das Projekt lieber nicht öffentlich verteidigen möchten. Aus Sicht der Organisation Werbungtreibende im Markenverband (OWM) sei der "jetzige erste Schritt sinnvoll und nachvollziehbar", sagt deren Vorsitzender Uwe Storch, hauptberuflich Head of Media bei Ferrero. "Bei der vergleichenden Bewertung von unterschiedlichen Streamingdiensten und deren Leistung sind Nettoreichweiten inzwischen eine weit verbreitete Metrik im Markt."
Während Andrea Malgara, Managing Partner der Mediaplus-Gruppe, die Vergleichbarkeit mit dem Online-Video-Markt als Vorteil der AGF-Hitlisten bezeichnet, übt er an anderer Stelle deutliche Kritik: "Die Festlegung auf mindestens 1 Sekunde ist in der Tat viel zu weich – hier sollte wenigstens der alte TV-Fact '10 Sekunden konsekutiv' reproduziert werden. Wesentlich aussagekräftiger wären auch bei Streaming-Inhalten Hitlisten nach dem gesehenen Anteil, also 0, 50 oder 100 Prozent der Sendung gesehen." Dies sei auch für die Bewertung von Video-Ads ein gebräuchliches Vorgehen. "Mr. Media" und DWDL.de-Podcaster Thomas Koch spricht gar von einem "Trauerspiel". Es habe den Anschein, "als sei die AGF hier gegenüber der Online-Fraktion eingeknickt, nur um eine gemeinsame Währung präsentieren zu können". Durchaus realistisch klingt die Prognose von pilot-Hamburg-Geschäftsführerin Deniz Mathieu: "Ich denke, wir werden noch viele Diskussionen führen und mit unterschiedlichsten Währungsideen um Vergleichbarkeit ringen."
DWDL.de dokumentiert die Stellungnahmen in alphabetischer Reihenfolge:
"Mit der Veröffentlichung der Streaming-Hitlisten weist die AGF Daten aus, die einen fairen und transparenten Vergleich möglich machen - nicht nur mit den Broadcastern, die sich von der AGF messen lassen, sondern auch mit anderen Anbietern", sagt Matthias Dang, Geschäftsführer Vermarktung, Technologie und Daten der Mediengruppe RTL Deutschland. "Die aus der reinen TV-Welt gelernte und relevante Kennzahl Sehbeteiligungen hat einen Zeitbezug – im Gegensatz zur Nettoreichweite, die im Bereich Streaming der weit verbreitete Leistungswert ist. Mit dem Ausweis von Nettoreichweiten wird ein Vergleich von Anbietern möglich, die die AGF nicht misst. Diese haben in der Regel keinen Zeitbezug in ihren Daten und messen auch nur einen 0/1-Kontakt. Die Entscheidung, Nettoreichweiten als führende Kennzahl im Streaming zu nutzen, hat die AGF in ihren Gremien schon vor einigen Jahren getroffen. Dort sind auch wir vertreten. Der Markt arbeitet bereits mit den Daten. Die Sehbeteiligung wird außerdem nicht abgeschafft, sondern kann weiter für Analysen genutzt werden. Vor diesem Hintergrund in den Hitlisten auch die konvergenten Daten und damit auch die Nettoreichweite von TV aufzuzeigen, ist doppelt wertvoll, weil es zeigt, wie groß die Gattung TV ist, wenn man sie mit dem Maßstab der US-Plattformen messen würde. Die AGF hat mit der Veröffentlichung die Diskussion eröffnet, wie ein Kontakt definiert werden sollte, und das finden wir im Sinne des gesamten Marktes gut."
"Als bekennender Freund sowohl des linearen Fernsehens, aber auch der Streaming-Dienste, bin ich erstaunt über die neue Währung", sagt Mediaberater Thomas Koch, Inhaber von tk-one und The DOOH Consultancy. "Die 'Eine-Sekunde-Währung' besitzt keine Aussagekraft. Sie als Nettoreichweite zu bezeichnen, ist schon deshalb verwirrend, als sie nicht die Qualität besitzt, die ich als Mediaplaner für die Platzierung von Kampagnen in Bewegtbild-Medien benötige. Es hat ganz den Anschein, als sei die AGF hier gegenüber der Online-Fraktion eingeknickt, nur um eine gemeinsame Währung präsentieren zu können. Nein, ich verstehe die Entscheidung nicht. Sie passt für mich aber ins Bild der digitalisierten Medienwelt, in der es zwar mehr KPIs denn je gibt, sie aber in ihrer Aussagekraft immer wertloser werden. Es ist ein Trauerspiel."
"Die Reichweiten für Streaming werden, obwohl eigentlich innerhalb eines gesamten Mess-Konstruktes erhoben, nicht mit den derzeit erhobenen Standard-Facts von linearem TV vergleichbar sein", so Andrea Malgara, Managing Partner der Mediaplus-Gruppe. "Allerdings steht eine 0/1-Messung grundsätzlich auch als Fact für das lineare TV zur Verfügung. Was für eine 0/1-Ausweisung von Streams spricht: Man ist damit tatsächlich näher an den im Online-Video-Markt etablierten Kennziffern dran. Besonders für die Bewertung von Streams als Werbeträger ist eine 0/1-Ausweisung sinnvoll, da die hier generierten Werte näher an den abrechnungsrelevanten Brutto-Kontakten liegen als eine sehdauergewichtete Sehbeteiligung, die nichts über die tatsächliche Größe des erreichten Publikums aussagt. Aber: Die Festlegung auf mindestens 1 Sekunde ist in der Tat viel zu weich – hier sollte wenigstens der alte TV-Fact '10 Sekunden konsekutiv' reproduziert werden. Wesentlich aussagekräftiger wären auch bei Streaming-Inhalten Hitlisten nach dem gesehenen Anteil, also 0, 50 oder 100 Prozent der Sendung gesehen – das ist z.B. für die Bewertung von Video-Ads ein gebräuchliches Vorgehen. Die Relevanz der Streaming-Daten im AGF-Panel für die werbungtreibende Industrie ist aktuell aber ohnehin nur bedingt gegeben, da die AGF keine Werbung im Stream misst, sondern nur die Reichweite des Contents. Es gibt auch im Planungstool der AGF (TV-Control) bislang keine Möglichkeit, Bewegtbild werblich zu planen. Hier sind die Agenturen auf eigene Ansätze und Tools angewiesen. Eine Differenzierung der Hitlisten nach 'werblich buchbar' und 'nicht werblich buchbar' wäre zudem sinnvoll. Für Werbungtreibende und Agenturen ist es wichtig zu erfahren, welche zusätzliche (Netto-)Reichweite man durch die zusätzliche Belegung von Streaming-Inventar erzielen kann. Eine reine Leistungsschau von Vermarkter-Inventar hilft uns nicht weiter."
"TV ist im Umbruch und längst mehr als klassisch lineares Free TV und damit sind auch Prozesse und Daten im Umbruch", urteilt Deniz Mathieu, Geschäftsführerin von pilot Hamburg. "Die Streaming+TV-Reichweiten bilden den kleinsten gemeinsamen Nenner im 'TV 2.0' und legen eine Grundlage für Vergleichbarkeit, die sich aus dem eng gefasst klassischen TV-Rahmen auch herausbewegen muss. Ich denke, wir werden noch viele Diskussionen führen und mit unterschiedlichsten Währungsideen um Vergleichbarkeit ringen. Wichtig ist die Transparenz und Verlässlichkeit, wie gerechnet wird. Das dann klug einzuordnen und darauf basierend Entscheidungen zu treffen, ist dann die Aufgabe der Planer und Budgetentscheider, die beispielsweise die Bewegtbildoptionen – Optionen von Social, VOD, OTT, ATV, klassisch TV bis Outstream-Video im Vergleich – ihren Zielen entsprechend attribuieren müssen."
"Die Streaming-Hitlisten der AGF sind ein erster Schritt hin zu einer konvergenten Ausweisung von TV- und Streaming-Nutzung", findet Klaus Peter Scharpf, Managing Director Business Planning von Mindshare. "Die dort ausgewiesenen Nettoreichweiten geben einen Überblick über die gesamte Nutzerschaft und zeigen damit erste Rahmengrößen. Das schließt nicht aus, dass die AGF zukünftig auch Nutzungsdauern in Relation stellen wird. Aktuell sind die Listen ein begrüßenswerter Fortschritt. Mit der Ausweisung von Sendungen geht die AGF gleich auf eine feingranulare Ebene, wie sie durch kein anderes Mess-System für digitale Nutzung ausgewiesen wird. Die Streaming-Hitlisten vermitteln außerdem einen guten Eindruck, welche Formate im Vergleich zu TV verstärkt abgerufen werden und wie sich damit Streamingnutzung inhaltlich von linearer TV-Nutzung unterscheidet."
"Discovery begrüßt die Veröffentlichung der monatlichen Streaming-Hitlisten durch die AGF, die für mehr Sichtbarkeit der gesamten Content-Nutzung der einzelnen Medienhäuser sorgen", sagt Markus Spangler, Vice President Ad Sales bei Discovery. "Mit der Ausweisung der Nettoreichweiten wird eine digitale Vergleichbarkeit mit Streaminganbietern geschaffen, die es bislang nicht gab und die für größere Transparenz im Wettbewerb sorgt. Die Messung der Sehbeteilung wird nicht abgeschafft, sondern wird von der AGF auch weiterhin für entsprechende Analysen zusätzlich zur Verfügung gestellt."
"Es geht hier nicht um ein Entweder-oder oder eine Ersetzung, denn die AGF als JIC (Joint Industry Committee) setzt für TV seit Jahrzehnten den Standard der linearen Bewegtbildmessung", so Uwe Storch, Head of Media bei Ferrero und OWM-Vorsitzender. "Standards benötigt der Markt aber auch in der nonlinearen Streaming-Welt. Im Interesse einer tatsächlichen Vergleichbarkeit mit Angeboten und Plattformen, die noch nicht Teil des AGF-Systems sind, ist der jetzige erste Schritt aus OWM-Sicht sinnvoll und nachvollziehbar. Bei der vergleichenden Bewertung von unterschiedlichen Streamingdiensten und deren Leistung sind Nettoreichweiten inzwischen eine weit verbreitete Metrik im Markt. Aus der Sicht der OWM sehen wir daher in den jetzigen ersten Hitlisten überhaupt keine Aufweichung, sondern eher eine Ergänzung oder Ausweitung. Wobei der qualitativ höherwertige Standard der Sehbeteiligung in den AGF-Systemen weiterhin hinterlegt und von allen Marktpartnern natürlich auch genutzt wird. Aus Sicht des Marktes und der OWM gibt es auch keine Bestrebungen, daran etwas zu ändern."
"Mit der Veröffentlichung von Streaming-Hitlisten werden die Streaming-Reichweiten der an der AGF beteiligten Medienhäuser erstmals mit den Video-Abrufzahlen der großen Digital-Player, die sich nicht von der AGF messen lassen, vergleichbar", sagt Thomas Wagner, Geschäftsführer und Chief Sales Officer der Seven.One Entertainment Group. "Diese reporten bekanntlich seit jeher ausschließlich Netto-Reichweiten. Mit den Streaming-Hitlisten schafft die AGF damit zusätzliche Transparenz im Digital-Bereich und gibt Auskunft über den Erfolg der großen TV-Formate in der digitalen Welt. Das ist insbesondere auch für unsere Kunden wichtig und war stets ein großer Wunsch der Werbetreibenden. Unabhängig davon bleibt die Sehbeteiligung im linearen TV-Bereich selbstverständlich die wichtige Kennzahl für den Markt. Die Streaming-Reichweiten ergänzen diese Zahlen entsprechend."
"Wichtig in diesem Kontext ist der Hinweis, dass die Nettoreichweiten sicher nicht an die Stelle der Sehbeteiligungswerte treten, sondern diese vielmehr ergänzen", so Camille Zubayr, Leiter der ARD-Medienforschung. "Auf die ursprüngliche TV-Welt bezogen, bleibt die Sehbeteiligung das entscheidende Maß, aber in der Streaming-Welt mit den vielen verschiedenen und häufig intransparent gehaltenen Netto-Werten ist die transparente Netto-Reichweite der AGF zunächst doch eine gute und konstruktive Ergänzung. Jeder wünscht sich sicher die eine unverrückbare Maßzahl zur Bewertung aller Medienangebote, aber die Welt wird komplizierter statt einfacher. Da macht die Medienwelt und -nutzung keine Ausnahme."
Über den Autor
Torsten Zarges ist seit 2013 Chefreporter des Medienmagazins DWDL.de. Stellt liebend gern Fragen – an deutsche Intendanten wie an US-Showrunner. Hat Journalistik und Politik an der Uni, BWL bei "Succession", VWL bei "Bad Banks" und Touristik bei "The White Lotus" studiert.
"Festlegung auf 1 Sekunde viel zu weich": AGF erntet geteiltes Echo