Der "Spiegel"-Journalist Claas Relotius hat zugegeben, viele seiner Geschichten, die er in den vergangenen Jahren für das Nachrichtenmagazin schrieb, gefälscht zu haben. Das sei das Ergebnis einer internen Rechereche, an deren Ende der 33-Jährige sein Fehlverhalten selbst einräumte. Relotius habe sein Büro inzwischen geräumt und seinen Vertrag gekündigt, heißt es in einer langen Geschichte von Ullrich Fichtner, der in Kürze neben Steffen Klusmann und Barbara Hans als "Spiegel"-Chefredakteur tätig sein wird. Seine Rekonstruktion des Falls, der sich stellenweise wie ein Krimi liest, erschien am Mittwochmittag als Aufmacher bei "Spiegel Online".
Der Fall ist auch deshalb so besonders, weil Relotius für seine Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde - etwa mit dem Peter-Scholl-Latour-Preis oder als CNN-"Journalist of the Year". Erst Anfang Dezember hatte er den Deutschen Reporterpreis für die beste Reportage entgegengenommen. In seinem Text schrieb Relotius über einen syrischen Jungen - doch die Quellen seien trüb, räumt der "Spiegel" nun ein. "Vieles ist wohl erdacht, erfunden, gelogen. Zitate, Orte, Szenen, vermeintliche Menschen aus Fleisch und Blut. Fake." Relotius habe "alle geblendet", heißt es. "Chefredakteure, Ressortleiter, Dokumentare, Kollegen, Journalistenschüler, Freundinnen und Freunde."
Der Fall Relotius markiere "einen Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des 'Spiegel'", räumt Ullrich Fichtner unumwunden ein - und entschuldigt sich im Namen des gesamten Magazins. "'Der Spiegel' bittet jeden und jede, der oder die mit falschen Zitaten, erfundenen Details ihres Lebens, in erdachten Szenen, an fiktiven Orten oder sonst in falschen Zusammenhängen in Artikeln von Claas Relotius im 'Spiegel' aufgetaucht sein mögen, um Entschuldigung. Das Haus entschuldigt sich auch bei seinen Leserinnen und Lesern, bei allen geschätzten Kolleginnen und Kollegen in der Branche, bei den Preiskomitees und -jurys, den Journalistenschulen, bei der Familie Rudolf Augsteins, bei Geschäftspartnern und Kunden."
Es tue besonders weh, dass es Relotius gelingen konnte, "jahrelang durch die Maschen der Qualitätssicherung zu schlüpfen", und es stelle Fragen an die interne Organisation. Im Zuge dessen kündigte der "Spiegel" an, eine Kommission berufen zu wollen, um die Vorgänge aufzuklären und Wiederholungsfälle zu vermeiden, auch wenn sich diese "beim besten Willen" nicht ausschließen lassen würden. "Dass ein Kollege vorsätzlich betrügt, kann nicht Teil der alltäglichen Überlegungen im Journalismus sein", schreibt Fichtner. "Die Regel ist das redliche Bemühen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Der Betrug ist die Ausnahme. Bei Claas Relotius verfließen alle Sphären."
Es lasse sich sagen, dass Relotius, den Fichtner "einen der auffälligsten Schreiber des 'Spiegel'" nennt, kein Reporter sei, "sondern dass er schön gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt". Die "Methode Relotius" beschreibt der künftige "Spiegel"-Chefredakteur Fichtner so: "Es ist alles nur ein Arrangieren von Rohmaterial, vor allem fremdes." Dabei bediene er sich aus Bildern, aus Facebook-Posts und YouTube-Videos, "er fleddert alte Zeitungen, entlegene Blogs, und aus den Teilen und Splittern und Fetzen und Krümeln erschafft er seine Kreaturen wie ein verspielter kleiner Gott".
Von dem Geschichten-Schwindel könnten auch andere Medien betroffen sein, mutmaßt der "Spiegel" und erklärt, Claas Relotius habe in der Vergangenheit unter anderem für "Circero", "taz", "Welt" und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" geschrieben. Darüber, ob Relotius nun weitere Konsequenzen zu fürchten hat, äußerte sich das Nachrichtenmagazin zunächst nicht.
Dass die Wahrheit überhaupt ans Licht kam, ist vor allem Juan Moreno zu verdanken, der zusammen mit Relotius an einer Geschichte für den "Spiegel" arbeitete und sich über "womöglich faule Stellen" wunderte und schließlich seinem Kollegen sogar auf eigene Kosten hinterherrecherchiert, wie es heißt. Relotius selbst sagt, es sei ihm nicht um das nächste große Ding gegangen. "Es war die Angst vor dem Scheitern." Je erfolgreicher er wurde, desto größer sei sein Druck geworden, nicht scheitern zu dürfen. Und: "Ich bin krank, und ich muss mir jetzt helfen lassen."