Das, was diese Woche in London passieren wird, ist der vorläufige Höhepunkt eines in der TV-Branche mit Spannung verfolgten Dramas um Macht, Standort und Relevanz. Um zu verstehen, was viele Programmeinkäufer aus aller Welt so besonders neugierig macht auf die kommenden Tage, muss man etwa zehn Jahre in die Vergangenheit reisen. Bereit? Der französische Messeveranstalter ReedMidem (heute RX France) veranstaltete damals - wie schon seit Jahrzehnten - erfolgreich zwei TV-Messen an der Côte d’Azur über die auch DWDL.de regelmäßig berichtete: Die MIPTV im April und die MIPCOM im Oktober.
Es waren Fixpunkte im Kalender der TV-Branche, wenn gleich die eigentlich traditionsreichere Frühjahrsausgabe bereits etwas unter Druck geriet: Die US-Studios ziehen zogen sich zurück. Das „Golden Age of Television“ mit seinem Serien-Hype sorgte dafür, dass die Neugier auf die vielen neuen Produktionen aus Hollywood stieg - und die dortigen Studios sich angesichts voller Auftragsbüchern vor Kraft strotzend auf die Inszenierung ihrer eigenen Events, die LA Screenings, im Mai konzentrierten. Damals kursierte zwischenzeitlich das Gerücht, die MIPTV würde einen Wechsel nach Barcelona erwägen - um neue Impulse zu setzen. Daraus wurde aber nichts.
Gefährlicher als Los Angeles wurde Cannes dann jedoch Jahr für Jahr das britische Liverpool: Dort veranstaltete BBC Worldwide (heute BBC Studios) meist wenige Wochen vor der MIPTV über einige Jahre hinweg seinen eigenen mehrtägigen Showcase-Event. Ein Event mit erstaunlicher Magnetwirkung, was wiederum weitere britischen Produktionshäuser, allen voran ITV Studios, auf eine Idee brachte: Wenn schon einmal so viele internationale TV-Einkäufer ohnehin in Großbritannien sind - und nicht wenige davon ohnehin über London an- bzw. abreisen - könnte man diese doch im Nachgang des BBC-Events abgreifen.
LA, London, Liverpool: Drei Ls wurden zum Verhängnis
Ein Gedanke, der weitere Nachahmer fand. Die winterliche Reise nach Großbritannien wurde für Einkäufer so immer ergiebiger. Für die Reed Midem wurde das zum Problem: Wenige Wochen vor der MIPTV reisten viele nach Großbritannien, wenige Wochen danach wiederum viele nach Los Angeles. Brauchte es da noch die Messe in Cannes? Um die strauchelnde MIPTV zu stärken, erfand man 2018 ein neues Serienfestival, Canneseries. Als kleine Schwester des weltberühmten Filmfestivals an der Côte d’Azur sollte es helfen, im Event-Kalender der Branche nicht an Relevanz zu verlieren.
Dann kam die Corona-Pandemie und mit ihr der Stopp aller Events. Eine Zeit der Reflexion, die man in London zu nutzen wusste. Die Produktionshäuser all3media International, Banijay Rights, eOne, Fremantle und ITV Studios bildeten im Dezember 2020 eine Allianz um ihre Screenings künftig unter einer gemeinsamen Dachmarke zu präsentieren: Die London Screenings waren geboren. 2021 erst einmal Pandemie-bedingt in digitaler Form, seit 2022 dann wieder in der britischen Hauptstadt. Bei dieser Premiere vor Ort waren dann mit Beyond Rights, Blue Ant International, Cineflix Rights, DCD Rights, Hat Trick International, Passion Distribution und Studio Canal auf Anhieb noch zahlreiche weitere Vertriebshäuser dabei. Und es wurden 2023 und 2024 immer mehr.
Währendessen in Cannes: Sinkende Besucherzahlen der MIPTV, eine radikale Verkleinerung des über Jahrzehnte ausgedehnten Messegeländes und spürbare Panik: Im beinahe jährlichen Wechsel wurde das Serienfestival zwischen MIPTV und MIPCOM hin und her geschoben. Einst ins Leben gerufen, um die Frühjahs-MIPTV zu retten, wollte man mit einem Wechsel zur größeren MIPCOM nun das Serienfestival selbst retten. Zum 60. Geburtstag der ältesten Fernsehmesse der Welt 2023 kursierten erstmals Gerüchte, die ein Jahr später Realität wurden: Kurz vor der MIPTV 2024 bestätigte Messeveranstalter RX France, dass man nach 61 Jahren den Stecker zieht.
Braucht es ein Begleitprogramm zu den Screenings?
Stattdessen präsentierte man für 2025 ein neues Konzept: Die MIP London - und das terminlich parallel zu den erfolgreich etablierten London Screenings. Doch braucht es die MIP London? Da sind sich viele TV-Einkäufer nicht so sicher wie RX France. Umso gespannter sind alle auf diese Woche in London, wo einerseits die London Screenings stattfinden - im Grunde völlig unabhängig von einander stattfindende Screenings über diverse Locations verteilt, die sich nur zeitlich abgestimmt haben, um sich nicht mehr Konkurrenz zu machen als nötig. Andererseits die MIP London, die das altehrwürdige Savoy Hotel mit angrenzendem Kongresszentrum bezogen hat. Eine eigentlich zentrale Location, aber doch gut und gerne 20 Minuten entfernt von vielen Events der London Screenings.
Man positioniert sich inhaltlich als Ergänzung: Mit Networking-Gelegenheiten, einem Kongressprogramm mit Präsentationen, Keynotes und Screenings von Firmen bzw. Ländern, die nicht bei den London Screenings dabei sind. Keine klassische Messe mehr, viel kleiner. Highlight im Programm, farblich unübersehbar in der Übersicht hervorgehoben, ist für die Veranstalter am Dienstag um 11 Uhr eine „Executive Vision“ von Bela Bajaria, CCO von Netflix, und David Beckham. Am Tag zuvor sind das Screening von Talpa Studios, der aus Cannes übernommene MIPformats-Pitch mit Sponsoring Partner FOX und ein ebenfalls traditionsreiches „Fresh TV Formats“-Screening von The Wit interessant. Der Mittwoch wiederum steht im Zeichen von „Global Streaming Strategies“ mit Panel-Talk sowie Vortrag in den Händen von Evan Shapeiro.
Ein recht ordentliches Kongress-Programm. Aber für wie viele London-Reisende aus der Branche ist das attraktiv? Schließlich gibt es rund um die eigentlichen Veranstaltungen der etablierten London Screenings ebenso noch Empfänge, Dinner und Partys. Die Terminkalender waren in den Vorjahren oft schon voll. Und wie sehen die Firmen hinter den London Screenings eigentlich die Ambitionen? Die hatten sich schließlich ganz ohne Hilfe vom französischen Messeveranstalter RX zu einer erfolgreichen Marke etabliert. Und nicht wenige Distributoren haben sich schließlich auch deshalb den London Screenings angeschlossen, weil sie raus wollten aus den komplexen und eigenwilligen Verträgen, die in Cannes auch für Kritik sorgten.
Andererseits, hört man ebenso, festigt die MIP London die Relevanz dieser Woche in der britischen Hauptstadt und zieht auch zusätzliche Branchenvertreter an - weil unter dem Dach der neuen Veranstaltung insbesondere internationalen Märkten eine Gelegenheit zur Präsenz gegeben werden, die keine eigenen Screenings abhalten, weil sie ihren Hauptsitz nicht in London haben, etwa asiatische Märkte wie Japan, Südkorea und China, aber auch Kanada, die diesmal Präsenz zeigen. Ob das reichen wird, ist die spannende Frage. Die MIP London, es ist der letzte Versuch von RX France nach dem verlorenen Kampf um den Standort Cannes nicht gänzlich den Kampf um Relevanz (und das Geschäft) mit der Branche im Frühjahr zu verlieren.
DWDL.de berichtet diese Woche aus London - von der Premiere der MIP London ebenso wie von den London Screenings, wo der Zugang für die Presse allerdings sehr unterschiedlich gehandhabt wird.