Während die Hotels anlässlich der MIPTV in Cannes so günstig waren wie vor der Pandemie schon seit Jahren nicht, die Cafes der Stadt bemerkenswert selbst am Messe-Montag nur halbvoll und auch in sonst begehrten Restaurants kurzfristig noch Tische zu bekommen waren, ließ es Messeveranstalter RX Global in Cannes ordentlich knallen: Ein großes Feuerwerk am Montagabend war an der Croisette nicht zu übersehen und -hören.
Gedacht war es, um den 60. Geburtstag der Fernsehmesse zu feiern, doch nicht wenige Besucherinnen und Besucher fragen sich nach einer Messe ohne den erhofften Aufschwung nach der Corona-Pandemie: War das ein Höhe- oder viel mehr Schlusspunkt? Die Veranstalter kündigten am Mittwoch immerhin eine MIPTV für 2024 an. Doch nie war der Unterschied zur MIPCOM im Herbst deutlicher, die im vergangenen Oktober - inszeniert als die erste große Messe nach der Pandemie - aus allen Nähten platzte und allen Kritikern trotzte, die angesichts der beschleunigten digitalen Kommunikation die Bedeutung von Messen wie dieser in Frage stellten.
Während sich die Messe- und Festivalstadt Cannes seit Jahren mit spürbaren Investments herausputzt, kann man das von der MIPTV nicht behaupten: Zwar wurde auch diesmal wieder einmal alles neu gedacht und die früher separat veranstalteten (und verkauften) MIPdoc, MIPformats und MIPdrama in die eigentliche MIPTV und ihr Programm integriert. Doch ein spürbarer Impuls blieb aus, auch das Festival Canneseries blieb diesmal blass. Dass man online davon so wenig liest, liegt an dem komplexen Mikrokosmos rund um die Messe, von dem viele Beteiligte gut profitieren.
Nicht wenige Journalistinnen und Journalisten werden von Anreise bis Unterkunft eingeladen, einige englischsprachige Fachdienste verkaufen ihre Berichterstattung gegen Geld und machen damit einträgliches Geschäft. Ein solcher Kreislauf erhält sich gerne. Noch dazu ist nicht nur die Medienbranche durch LinkedIn-Lobhudeleien mittlerweile oftmals entwöhnt von kritischer Berichterstattung und gewöhnt an belanglose Harmlosigkeit. So liest man auch bei dieser MIPTV wieder zahlreiche Corporate-Posts, die zufriedene PR in eigener Sache transportieren. Doch Führungskräfte vor Ort - sie sind skeptischer als die Außendarstellung.
Dabei gab es Neues in Cannes, mehr sogar als die Wiedereröffnung des alten Grand Hotels als Mondrian: Inhaltlich hatten mangels allzu intensivem Buzz drum herum und in Abwesenheit vieler Distributoren zwei Reality-Formate leichtes Spiel, die Messe zu prägen. Allen voran natürlich „The Traitors“, das in den Monaten zwischen der MIPCOM im Oktober und der MIPTV zum heißgehandelten Hitformat der Saison wurde, was ein eigenes Panel im Kongressprogramm einbrachte, um den Erfolg zu beleuchten.
Weitere Verkäufe des von All3Media vertriebenen Formats, das später im Jahr von RTL auch nach Deutschland gebracht wird, machten in den vergangenen Tagen Schlagzeilen. Während der Hype um „The Traitors“ bei dieser MIPTV also durchaus erwartbar war und All3Media entzückte, kam ein anderes Format kurzfristig und überraschend dazu: „Destination X“, ebenfalls ein Format aus dem beim deutschen Publikum schwierigen Genre der Reality-Gameshow - erfunden von der Produktionsfirma Geronimo in Antwerpen, vertrieben von Be-Entertainment aus Belgien.
Kandidatinnen und Kandidaten reisen in einem schwarzen Bus durch Europa, sehen aber nicht wohin sie reisen: Der Blick nach draußen ist ihnen verwehrt. Nur Hin und wieder bekommen Sie die Gelegenheit zu erraten, wo sie sich befinden - wenn die sonst blickdichten Scheiben kurzzeitig transparent werden oder sie gar aussteigen können. Doch ein Reiz des Formats besteht darin, dass die Kandidatinnen und Kandidaten wie auch das Publikum mit allerlei Tricks in die Irre geführt wird.
Am Ende jeder Folge gilt es zu erraten, wo in Europa sich der Bus gerade befindet. Wer mit seinem Tipp am weitesten daneben liegt, fliegt raus. Das Publikum zuhause, so ahnungslos wie der Cast, kann online rätseln und mitspielen. Das Format startete erst am 20. Februar in Belgien und wurde ein Überraschungshit. NBCUniversal und BBC vermeldeten zur MIPTV die gemeinsame Entwicklung des Formats für die USA und Großbritannien - ein schneller Ritterschlag für die Formatidee.
Woher kommen die nächsten Hits - eine Frage, die auch im Kongressprogramm der integrierten MIPformats gestellt wurde. Doch wer angesichts von überschaubarem Messeangebot dieses Mal teils erstmals Zeit hatte, einige der Panels zu besuchen, bekam zum Teil desolate Diskussionsrunden zu sehen. Dass man für sowas zahle, sei eine Unverschämtheit, empörten sich einige Besucher auch aus Deutschland. Andere als Keynotes ausgegebene Veranstaltungen, die leider seit Jahren schon keine Keynotes, sondern harmlose Plaudereien sind, waren wiederum überschaubar gut besucht.
Doch dem Unmut über das offizielle Angebot der Messe stand einmal mehr die Erkenntnis vieler Besucherinnen und Besucher gegenüber, dass die Messe als Anker für diverse Networking-Gelegenheiten ein willkommener Anlass für einen Branchentreff an der Cote d’Azur sind. Erschreckend eigentlich, dass Messeveranstalter RX Global diese nicht neue Erkenntnis seit Jahren nicht besser für sich zu nutzen weiß und gerade angesichts der enormen Konkurrenz durch London Screenings und Series Mania die zweifelsohne verlockende Location besser in Szene setzt.
Zwar sind die Messestände für viele Distributoren gerade im Gegensatz zu den in jüngsten Jahren immer zahlreicheren Festivals wie Series Mania ein Unterscheidungskriterium, um nicht nur Programm zu zeigen, sondern auch zu verkaufen und tatsächlich Termine abhalten zu können. Doch beim Rahmenprogramm tut sich RX Global unverändert schwer, sich von der Messe-Denke weiterzuentwickeln, versteckt manches im Keller statt die beste Strandlage des Palais des Festivals auszuspielen. Der aufgelockert eingerichtete Content Hub ist ein noch zu zögerlicher Anfang. Nicht mal Sitzgelegenheiten im Freien, geschweige denn Gastronomie wird geboten, um Meetings möglicherweise auf dem Gelände zu halten.
Und so sind es immer wieder die Cafés und Restaurants sowie die Empfänge und Partys rund um die eigentliche MIPTV, die für viele Besucherinnen und Besucher auch diesmal den eigentlichen Wert einer Reise nach Cannes ausmachten: Aus deutscher Sicht beispielsweise der ZDF Studios Sundowner am Strand, der MMC-Umtrunk oder der - auch dank Jan Mojtos persönlicher Performance - legendär gewordene Beta Brunch im Majestic Barriere. Mal tauscht man sich international aus, mal sind es hauptsächlich die Gäste aus einem Fernsehmarkt, die hier miteinander networken.
Und so war die Reise nach Cannes für viele wieder lohnenswert, hört man bei den Gesprächen vor der Rückreise. Dass aber inzwischen oft die oberste Führungsebene zuhause bleibt, einige namhafte Häuser gar nicht angereist sind und die Trendwende bei der MIPTV im Frühjahr nicht wie erhofft spürbar wurde, macht es zunehmend knifflig, diese zweite kleinere Fernsehmesse in Cannes zu rechtfertigen. Auch angesichts neuer aus europäischer Sicht wichtiger Termine im Medienjahr wie die London Screenings, Series Mania oder Content London.