Über Kriminelle halten sich hartnäckige Klischees, und selten sind es sympathische. Einst mit fiebrigem Blick und Stoppelbart leicht erkennbar, haben ihre fiktiven Exemplare nun zwar oft Charisma, Charme und seit Walther Whites fiesem Ausbruch gar anständige Häuser, Jobs, Familien. Ihr Ruf aber bleibt angekratzt. Auch Robin Hood wird ja nicht mehr als nobler Freund der Witwen und Waisen, sondern selbstsüchtiger Bandit in eigener Sache beschrieben. Kriminelle sind halt, in zwei Worten: die Bösen.

Und das gilt auch für ein Prachtexemplar schnauzbärtiger Bürgerlichkeit, den die trostlose Existenz als Autolackierer ohne Geld, Halt, Perspektive zu einer Reihe kapitaler Verbrechen treibt – da kann Arno Funke zu Beginn eines sechsteiligen Biopics noch so arglos beteuern, „ich geh nicht mit vorgehaltener Pistole in die Bank und erschreck ein paar Unschuldige zu Tode“ oder „hau auch kein‘ in die Pfanne, der mir vertraut“: Wenn er stattdessen beginnt, Kaufhäuser zu erpressen, macht die Polizei gnadenlos Jagd auf „Dagobert“.

So nennt sich ein Popstar hiesiger Nachkriegsgeschichte, der wie gemalt ist fürs aktuell zugkräftigste Unterhaltungsfach neben Fantasiekrimis: „True Crime“ genannte Echtkrimis. Nach „Gladbeck“ (ARD) oder „Gefesselt“ (Prime) wird nun RTL+ bei Gangstern der Achtziger fündig. Und wie in der rbb-Doku „Jagd auf Dagobert“ vom April oder dem frühen Spielfilm „Das Phantom“ nur Monate nach der Festnahme 1994, inszeniert Hannu Salonen darin ein filigranes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Friedrich Mücke als Täter und Mišel Matičević als Jäger.

Während ersterer schon dadurch Authentizität für sich beanspruchen darf, dass dessen Original der Produktionsfirma Zeitsprung Pictures als Berater diente, bleibt letzterer wie alle Ermittler (Maskulinum reicht) von Berlin bis Hamburg ein Mix aus Dichtung und Wahrheit. „Was meine Person betrifft, stimmt es im Großen und Ganzen“, schreibt Funke persönlich im Presseheft. Für alle anderen gilt die eingeblendete Formel handelsüblichen Historytainments: Rahmenhandlung real, Rest fiktional.

So begleiten wir einen plausibel labilen Friedrich Mücke viereinhalb Stunden als ketterauchenden Alkoholiker um die 40, der 1988 dank filigraner Sprengsätze und Geldübergaben 500.000 Mark vom Berliner KaDeWe erpresst und aus dem Gröbsten seiner zerrütteten Existenz raus zu sein scheint. Weil ihm das Geld förmlich unter den Fingern zerrinnt, bedroht er jedoch vier Jahre später bundesweit Karstadt-Filialen und wird zum meistgesuchten Straftäter seiner Zeit ohne terroristischen Hintergrund.

Nach Funkes Autobiografie und Drehbüchern von Ronny Schalk, mit dem der Regisseur 2020 bereits „Oktoberfest 1900“ gemacht hatte, sind Dagoberts Taten und Worte also einigermaßen überliefert. Seine Kontrahenten aber inklusive der Profilerin Sonja Balaš (Sonja Gerhardt) bleiben bloß dramaturgische Möglichkeiten der verbrieften Ereignisse, die nun mal literarisches Futter benötigen, um alles Dokumentarische darin bekömmlich zu machen. Und das Hauptgericht, so viel vorweg, ist zwar überwürzt, fast versalzen, aber ganz schön lecker.

Schließlich durchleuchtet RTL+ wie in „Faking Hitler“ den Aberwitz historischer Tatsachen so, dass sich faktischer und magischer Realismus die Waage halten. Wenn er nicht gerade mit seinem toten Vater im fliegenden Fernseher diskutiert, hocken Dagoberts Dämonen demnach schon mal in Gestalt einer Zombie-Ente auf der Schulter. Aber so spürbaren Spaß die Macher an originellen Stills und Zeitlupen, der dritten Wand oder ständigen Zooms auf letzte Sekunden von Funkes Zeitzündern haben – ins Absurde driftet die Serie nur selten ab.

Zum Glück. Denn wie der Serienname andeutet, ist „Ich bin Dagobert“ ein lupenreines Biopic, das seinen Fokus sechs Folgen konsequent auf die manisch-depressive Titelfigur legt. Parallel allerdings kreieren Schalk und Salonen Psychogramme der Wiedervereinigungsjahre, in denen die Sensationspresse zur Aufmerksamkeitsindustrie anschwillt und alte Gewissheiten glaubhaft mit sich reißt. Maskuline Allmacht zum Beispiel, perfekt verkörpert von Mišel Matičevićs Kommissar Strack, mit dem man sich auch abseits der Kamera lieber nicht anlegen möchte.

Für Geschichtsfernsehverhältnisse von Anke Winckler (Kostüm) und Julian Augustin (Szenenbild) ziemlich dezent ausgestattet, geht er stets mit offenem Visier ins Duell berlinernder Archetypen einer fragilen Herrlichkeit, die sich bei Funke in Freude an Technik und Testosteronmangel ausdrückt, bei Strack in der Freude an Privilegien und Testosteronfluten. Als dessen frischer (nicht woker) Kollege Kaidel (Moritz Führmann) die promovierte Psychologin Balaš aus Hamburg zur durchweg männlichen SoKo nach Berlin bringt, rieselt daher deutlich sichtbar Kalk aus dem Patriarchat.

„Watt is, wenn er sie nur austricksen will, Fräulein?“, fragt Platzhirsch Strack die Frau unter Alpharüden provozierend und erklärt ihr, wie bislang alle Ermittlungen gescheitert sind. „Hat sich das auf ihre Karriere ausgewirkt?“, schießt sie trocken zurück und macht mit nur einer Salve klar, wie sich der soziokulturelle Wind im Lande dreht, ohne bereits von vorne zu wehen. Gelegentlich blasen ihn die Kreativen zwar etwas unnötig mit Küchenpsychologie aus dem Off oder Flashbacks in Funkes Kindheit auf.

Insgesamt aber fügen sie dem ausgewalzten True-Crime-Genre damit einen Sechsteiler hinzu, der sein Publikum weder mit Brutalität über- noch mit Didaktik unterfordert. Und dann verkneift der Soundtrack sich, uns, dem guten Musikgeschmack auch noch das Populärste der 80er bis 90er. Dieser Bandit bleibt einfach völlig klischeefrei und damit real genauso wie fiktional wahnsinnig amüsant.

Der Sechsteiler "Ich bin Dagobert" steht bei RTL+ zum Abruf bereit, die lineare Ausstrahlung folgt ab dem 7. Oktober bei Nitro.