Was Utopien von Dystopien unterscheidet, ist auch eine Frage der Perspektive. Für Konservative bestehen Luftschlösser oft in der Wiederherstellung einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat. Für Progressive in der Entsorgung einer Vergangenheit, die oft gar nicht so furchtbar war. Für Hanna Bremer besteht sie darin, Geschichte mit Zukunft zu vereinen, auf dass es „sicher, gesünder und umweltfreundlicher“ wird – so wirbt ein schwedisches Unternehmen, mit dessen Hilfe Sachsens Ministerpräsidentin die deindustrialisierte Landschaft der Provinzstadt Kopwitz zum Blühen bringen will.
Und wie es sich bei einer Unterhaltungsserie im „Near Future“ genannten Segment gegenwärtiger Science-Fiction gehört, spielt Überwachungstechnik dabei die Hauptnebenrolle – das lässt sich gut an einer skandinavischen Modellsiedlung ablesen, die Bremers Kopwitz als Vorbild dient: „Concordia“. Genauso heißt auch der zugehörige Achtteiler. Und wer sich auch nur einigermaßen mit Fernsehregeln auskennt, ahnt spätestens jetzt: das wird wohl nichts mit Concordia, Kopwitz, Bremers Träumen. Oder doch?
Der skeptische Blick von Projektgründerin Juliane Ericksen (Christiane Paul) verheißt gleich zu Beginn jedenfalls wenig Gutes. Kein Wunder: während sie per Live-Schalte zusieht, wie ihr Sohn (Steven Sowah) einer Gruppe applaudierender Investoren die (Ertrags-)Möglichkeiten des deutschen Ablegers erklärt, kriegt Concordia Besuch von der britischen Krisenmanagerin Thea (Ruth Bradley). Kurz zuvor ist nämlich das Undenkbare passiert: Exakt 20 Jahre nach der Eröffnung wurde ein Mitarbeiter ermordet.
Es ist das erste Verbrechen einer Gemeinschaft, der ihre Verwaltung zum Preis vollumfänglicher Aufsicht durch Abertausend Kameras bis in die Privatsphäre körperliche und materielle Unversehrtheit in nachhaltiger, gerechter, fürsorglicher Atmosphäre garantieren konnte. Bis jetzt. Denn der Tod des dubiosen Außenseiters Oliver belegt nicht nur Big Brothers technologische Fehlbarkeit; je tiefer Thea mit der Sicherheitsbeauftragten Isabelle (Nanna Blondell) in den Fall vordringt, desto verwundbarer wirkt das KI-gestützte Kontrollsystem.
Klingt schwer, als sei die Frage nach Utopie oder Dystopie damit ebenso beantwortet wie in Near-Future-Fiktionen von der ARD-Serie „Zero“ mit Heike Makatsch über die Netflix-Serie „Paradise“ mit Iris Berben bis zur ZDF-Serie „Reset“ mit Katja Riemann. Überall malen die Showrunner hoffnungsfrohe Visionen an den Himmel der angebrochenen Zukunft. Überall tauchen sie ihn letztlich in pessimistische Farben. Dagegen geht Regisseurin Barbara Eder nach Büchern von Nicholas Racz, Mike Walden und Isla van Tricht den Mittelweg.
„Concordia“, meint Producer Frank Doelger über die internationale Koproduktion von Beta Film und ZDF Studios für MBC, Francé Télévisions und Hulu Japan, „unterläuft die Erwartung, dass alle Serien, die eine Utopie darstellen, auch dystopisch sein müssen“. Und tatsächlich mag sich die künstliche Intelligenz darin als fehlerhaft erweisen; ethisch bleiben die Grundsätze der Verantwortlichen bis auf wenige Ausnahmen stabil.
Natürlich haben mehrere Figuren ihre, so heißt das dann, „dunklen Geheimnisse“ bis hin zu einem Schulmassaker, das Isabelle in ständigen Flashbacks wiedererleben muss. Natürlich hat Olivers Absturz weniger mit Online-Dates, für die er das Netzwerk gehackt hatte, zu tun als mit seiner flüchtigen Egoshooter-Freundin Elodie aka The Hunter (Alba Gaïa Bellugi). Und natürlich ist die Zubereitung dank deutscher Beteiligung bisweilen so blöde wie der Untertitel „Tödliche Utopie“.
Julianes Auftaktmonolog, „wir müssen herausfinden, was mit Oliver passiert ist, das schulden wir seiner Familie und allen, die auf der Suche nach persönlicher Sicherheit nach Concordia gekommen sind“ ist sogar noch didaktischer als ihr eierschalenweißer New-Age-Anzug. Reinhold Heils Soundtrack ertränkt jede Spannung in düsteres Grundrauschen, als hätte er sich in den Schneideraum von „Dark“ verirrt. Praktisch jede Frau im surreal diversen Cast ist wohlgeformt wunderschön, der technische Leiter natürlich Asiate, sein Arbeitsumfeld übertrieben aseptisch ausgeleuchtet und die Natur ringsum idyllischer als bei Katie Fjorde. So bevormunden deutsche Fernsehfilmschaffende ihr Publikum seit Jahrzehnten…
Doch im Kontrast von hyggelig und hektisch, artifiziell und haptisch, zugeneigt und zynisch, den Kameramann Dominik Berg zwischen Ostseeschären und Computersphären erzeugt, stellt „Concordia“ gute Fragen nach dem richtigen Leben im Falschen und umgekehrt. Hier also: einer tragfähigen Mischung aus Status Quo und Fortschritt, die naturgemäß Widerstände beider Seiten provoziert. Im ZDF allerdings bleiben die sonst so starren Frontverläufe 45 Minuten pro Folge durchlässig und gewähren beim Zusehen eigenständige Grenzübertritte.
Während Karoline Eichhorns Regierungschefin Bremer die KI zwar fördert, aber nicht feiert und trotz aller Rückschläge verbissen durchzieht, mutiert Jonas Nays Datenschutzaktivist Leon zum Datenschutzterroristen. Wer da am Ende richtig liegt? Am ehesten noch Ruth Bradleys Ermittlerin Thea. Ihr irritiertes Lächeln ist das passende Gesicht dieser offenen Debatte. Schließlich verkneifen sich selbst Fachleute Prognosen über die Folgen künstlicher Intelligenz.
Dass sich belesene, liberale, empathische Menschen für die Illusion automatisierter Sicherheit bis ins Bade- und Schlafzimmer filmen lassen, also dort, wo selbst Chinesen (noch) unbeobachtet sind, wirkt demnach zwar übertrieben, angesichts aktueller Flüchtlingsdebatten aber auch nicht völlig absurd. „Concordia“ darf man daher als ergebnisoffenen, vielfach spannenden, manchmal stereotypen, sozialphilosophisch originellen Diskursbeitrag sehen. Utopie? Dystopie? Entscheiden Sie selbst!
Alle sechs Folgen von "Concordia" stehen ab dem 14. September in der ZDF-Mediathek zum Streamen bereit. Die lineare Ausstrahlung folgt am 20. und 21. Oktober ab 22.15 Uhr im ZDF in Dreierpacks.