Sie waren pubertierende Teenager, als ihre Karriere begann. Doch wer einst dachte, dass die Jungs von Tokio Hotel, jenen Emo-Rockern, die auch weit über die Grenzen Deutschlands hinaus polarisierten, Eintagsfliegen seien, hat sich bitter getäuscht.

Bill und Tom Kaulitz, die beiden eineiigen Zwillings-Frontmänner, sind noch immer da – und nicht zuletzt seit dem Start ihres erfolgreichen Podcasts "Kaulitz Hills", in dem sie regelmäßig ihren "Senf aus Hollywood" verbreiten, omnipräsenter denn je. Dieser Eindruck dürfte sich jetzt, da ihre neue Netflix-Serie gestartet ist, eher noch verstärken, auch wenn beide unterschiedlicher Meinung darüber sind, was genau "Kaulitz & Kaulitz" eigentlich ist. Während Tom die Produktion für eine Doku hält, spricht Bill lieber von einer Reality-Show – und dürfte damit bei der Genre-Definition richtiger liegen als sein Bruder.

Schon die ersten Minuten machen deutlich, dass der Fokus klar auf Entertainment liegt. Die coole Bildsprache strahlt zu fast jeder Zeit eine Leichtigkeit aus und sucht in dieser Konsequenz auf dem deutschen Fernsehmarkt ihresgleichen. Vor internationaler Konkurrenz muss sich das Format gewiss nicht verstecken. Fast immer glossy, oft ein bisschen drüber und durchweg perfekt geschnitten, erweist sich "Kaulitz & Kaulitz" – produziert von Constantin Entertainment – als großartige Unterhaltung, die sich bestens dazu eignet, der Realität mit all ihren Hiobsbotschaften zu entfliehen.

Nein, mit der Realität hat diese Reality wenig zu tun. Vielmehr leben die beiden Zwillinge in ihrer eigenen Welt – fernab von ihrer einstigen Heimat Magdeburg, mittendrin im faszinierenden Hollywood. Dass es dem Format gleichwohl gelingt, eine gewisse Bodenständigkeit zu vermitteln, ist nicht zuletzt dem Kaulitz-Umfeld zu verdanken, das, wie Mama Charlotte oder der sympathische Kumpel Davon, zwischendurch ebenfalls zu Wort kommen darf. Dazu zählt übrigens auch Heidi Klum, die sich dem Publikum nach einer Viertelstunde als Heidi Kaulitz und "Ehefrau von Tom Kaulitz" vorstellt.

Kaulitz & Kaulitz © Netflix

Dass "Kaulitz & Kaulitz" auf Anhieb so gut funktioniert, hängt freilich auch mit der Unterschiedlichkeit der Brüder zusammen. "Wir sind auf einer Ebene verbunden, die auch kein Freund ersetzen kann", sagt Tom irgendwann über seine Beziehung zum stets schillernden Bill. Der wiederum attestiert Tom "das typische Spießerleben" zu führen ,nur ein bisschen bigger", und behauptet von sich selbst, "nicht der Allerbeste mit Investitionen und Geld" zu sein, wie dann auch eine ausgiebige Shoppingtour unterstreicht. Dass Sparen im Leben der Kaulitz-Zwillinge eine eher untergeordnete Rolle spielt, zeigt dann auch ihre Geburtstagsparty, um die es in der ersten Folge geht. Diese wird standesgemäß in einem gläsernen Haus inmitten des berühmten Joshua Tree Nationalparks gefeiert. Zum Schnäppchenpreis dürfte die Location eher nicht zu kriegen gewesen sein.

Doch es sind eben nicht nur luxuriöse Momente wie diese, von denen die meisten der Kaulitz-Fans vermutlich allenfalls träumen können. Beim gemeinsamen Waffel-Backen mit abgelaufenem Vanillezucker aus Deutschland und der anschließenden Verkostung, die in einem wunderbaren Lachanfall endet, wirken Bill und Tom plötzlich nicht mehr wie die millionenschweren Lebemänner vom Mulholland Drive, sondern wie zwei ganz normale Brüder, die einfach gerne viel Zeit miteinander verbringen.

Dass es bis dahin ein weiter Weg war, wird in dieser Netflix-Serie immer wieder angerissen, etwa wenn zwischen all dem Glanz und Glamour an verrückt gewordene Fans von einst, verbunden mit einem Versteckspiel vor der Öffentlichkeit, erzählt wird oder Bill ganz offen über den Umgang mit seiner eigenen Sexualität und die Sehnsucht nach der großen Liebe spricht.

Vor allem aber lässt "Kaulitz & Kaulitz" über acht Folgen hinweg keinen Zweifel daran, was Bill und Tom wirklich sind: Zwei echte Entertainer, die mit den pubertierenden Teenagern von einst nicht mehr viel gemein haben.

"Kaulitz & Kaulitz", ab sofort bei Netflix