Von Jan Freitag
Die perfekte Welt, sie wäre ein einziges Geben und Nehmen zum Wohle fast aller. Jede Leistung erbringt darin gleichwertige Gegenleistungen. Wert und Wünsche regeln die Preise. Angebot und Nachfrage justieren sie nach. Theoretisch entstünde jenes Gleichgewicht, mit dem Max Lentor eine seiner Klientinnen auf ihren Talkshow-Disput mit der Pharmaindustrie über hormonverseuchtes Trinkwasser vorbereitet. "Hier sind die Fragen von Nina Well", sagt der Lobbyist und instruiert Lea Brandstätter, die Antworten auswendig zu lernen.
Wie er an solche Interna gelangt sei, will die verdutzte Umweltaktivistin der ARD-Serie „Wo wir sind, ist oben“ wissen. Da zeigt das Alphatier (Helgi Schmid) sein zahnarztweißes Strippenzieherlächeln, erklärt ihr das Prinzip Geben und Nehmen, dessen erster Teil sich als Kita-Platz für die Studioleiterin der Talkshow-Gastgeberin mit dem vertraut klingenden Namen erweist. Aber weil unsere Welt weder perfekt ist noch jeder Tauschhandel zum Wohle fast aller, kippt das Gleichgewicht zugunsten mächtiger Konzerne wie jenem, gegen den Dr. Brandstätter im Rededuell unterliegt.
Die Fragen nämlich waren falsch. Ein Winkelzug der findigen Valerie Hazard (Nilam Farooq), die von einer PR-Agentur im selben Gebäude wie Lentors Arbeitgeber ABC & Partner aus Brüssel abgeworben wurde, um zur mächtigsten Lobbyistin im politischen Berlin aufzusteigen. Acht Dreiviertelstunden lang zeigt uns die ARD-Mediathek also den sagenhaft attraktiven Max im nachbarschaftlichen Dauerclinch mit der ebenso schönen Valerie. Und das ist eine Kaskade merkwürdiger Koinzidenzen.
Wenn sie gewinnorientierte Großunternehmen vertritt, dann gegen spendenfinanzierte Nichtregierungsorganisation auf seiner Gehaltsliste. Wenn er ein Start-up berät, dessen Roboter womöglich bald Pflegepersonal ersetzen, dann gegen ihre Dienstleistungsgewerkschaft im Portfolio. Wenn die Braunkohlebagger von Lentors Kundschaft ganze Lausitz-Dörfer bedrohen, agitiert Hazard für die Sache der potenziell Verdrängten. So variabel stellt sich der Writers Room von Showrunner Christian Jeltsch eine Branche vor, die eher selten, aber tendenziell sehenswert fiktionalisiert wurde.
Drei Legislaturperioden nach Aaron Eckharts hinreißendem Tabak-Verteidiger Nick Naylor in "Thank You for Smoking" knüpft die deutsch-französische ARD-Serie „Parlament“ zum Beispiel seit 2020 Brüsseler EU-Netzwerke nach, dass der Filz darin nur so flattert. Drei Jahre zuvor hatte man sich von Rosalie Thomass‘ Brüsseler "Lobbyistin" im ZDF zwar ähnlich selbstentlarvenden Tiefgang erhofft wie parallel dazu in der wunderbaren Hinterzimmer-Persiflage „Eichwald, MdB“. Dass die ARD ihr mittleres Niveau nun drei Untergeschosse tieferlegt, war allerdings nicht zu erwarten.
Je hälftig gedreht vom satirekundigen Wolfgang Groos ("Faking Hitler") und Polizeiserienspezialist Matthias Koßmehl ("WaPo Duisburg") tauchen die Figuren durchs Bällebad billiger Klischees, dass sich noch mehr Balken biegen als im realen Blendgranaten-Gewerbe. Hierarchiegespräche erfolgen da vornehmlich im Fahrstuhl. Handlungsrelevante Player haben allesamt bestechungsspezifische Leichen im Keller. Schmiergeld wechselt im (braunen) Umschlag (öffentlich) die Besitzer. Und zwar meistens im Café „Einstein“ namens – tihi – "Albert", wo jemand hartgekochte Eier isst, falls es um Missbildungen im Hodenbereich geht.
Valeries Chefin (Barbara Philipp) ist – Frauen halt – Esoterikerin im Blümchenkleid, Max‘ Boss (Jan-Gregor Kremp) dagegen – Männer eben – Bademantelfan mit Büro-Jacuzzi und die Grand Dame der Lobbyszene (Ulrike Kriener) raucht – wie alle Diven – durch Zigarettenspitzen. Stereotyper sind da nur noch die Schlagfertigkeitsschlachten der zwei Hauptfiguren, die natürlich verschiedener kaum sein können. Während Max tagsüber meistens moralisch agiert, abends seiner schwangeren Schwester hilft und morgens nach dem Vögel füttern rudert, ist Valerie von früh bis spät opportunistisch, entspannt danach beim Schießtraining und hat nach durchfeierter Nacht Dreier mit schwarzer Gespielin, wie die Serie ohnehin vor Holzhammer-Diversity nur so scheppert. Schade eigentlich.
Findet auch Christina Deckwirth. Anstatt realexistierende "Machtungleichgewichte zu thematisieren, die politische Entscheidungen regelmäßig verzerren", moniert die "Lobbycontrol"-Aktivistin nach zwei der acht Folgen, "gibt es sehr viele Klischees". Während makellose PR-Models wie Max und Valerie mit identischem Aufwand lokale NGOs oder globale Multis vertreten, bestehe die Arbeit echter Lobbyisten vor allem aus Teamwork am Schreibtisch, die neben Kommunikationsfähigkeit eher Menschenkenntnis als Trinkfestigkeit erfordern. "Zentrale Einzelpersonen wie hier", so Deckwirth, "sind nicht so häufig." Aber eben ansehnlich.
Theoretisch. Praktisch ist an der Serie abgesehen von zwei, drei Nebendarstellern (Roland Kululies) und vier, fünf Sätzen ("wenn Sie so sanft reden, ist das eigentlich Masche oder Long Covid?") vieles so unansehnlich, dass selbst Anflüge plausibler Läuterung bei Max verblassen. Kein Wunder, dass Sky "Public Affairs", wie "Wo wir sind, ist oben" anfangs heißen sollte, inmitten der Postproduktion ans Erste abgestoßen hat. Offiziell wollte sich der Pay-TV-Sender zwar ohnehin aus deutschsprachiger Fiction zurückziehen. Aber wer weiß – vielleicht war dieser missratene Versuch, den bitteren Ernst politischer Einflussnahme unterhaltsam zu machen, ja auch der Grund dafür.
Von Torsten Zarges
Da hat die ARD einen guten Fang aus der fiktionalen Insolvenzmasse von Sky gemacht. "Public Affairs" hätte die Serie beim Pay-TV-Anbieter heißen sollen, "Wo wir sind, ist oben" lautet nun der öffentlich-rechtliche Titel. Der passt viel besser, obwohl (oder gerade weil) ein Buch der Geissens vor vier Jahren genauso hieß. Immerhin geht es um die Neuinterpretation der guten, alten Screwball Comedy im Berliner Regierungsviertel von 2024. Dass Lobbyisten dort die wahren Strippenzieher sind und bildstarke Narrative mehr zählen als demokratische Willensbildung, weiß jeder Zyniker, der von "House of Cards" bis "Politico" geschult wurde. Warum nicht also einfach Spaß haben mit den Hinterzimmerintrigen der Spin Doctors, die allemal spannender anzuschauen sind als Bürgersprechstunden von gewählten Abgeordneten.
Söldner der Interessenvertretung wie Valerie Hazard und Max Lentor, die Hauptfiguren aus "Wo wir sind, ist oben", hätten im echten Berlin mutmaßlich keine Chance, weil sie viel zu auffällig agieren. Andererseits böten sie dem durchschnittlichen MdB mit ihrer geballten Strahlkraft, Schlagfertigkeit und Sexyness eine willkommene Abwechslung zum grauen Anzugträger vom Gesamtverband der Versicherungswirtschaft. Nach spätestens 15 Minuten – in denen Max ein Ferkel aus dem Kanzleramt herausträgt, sein Chef mitten im Büro einen Floating-Tank besteigt und Valerie eine Mitarbeiterin fragt, ob deren sanfte Stimme "eigentlich Masche oder Long Covid" sei – weiß das Mediathekspublikum, dass es von dem Achtteiler keine authentische Hintergrundschilderung erwarten sollte, dafür aber Wortwitz, Situationskomik und Erzähltempo.
Im Vordergrund steht das amüsant-überdrehte Katz-und-Maus-Spiel zwischen den rivalisierenden Lobbyisten Valerie und Max, deren Agenturen im selben Haus – dem futuristischen Gebäude des Medizintechnikkonzerns Ottobock am Potsdamer Platz – sitzen und die sich an den gegensätzlichen Polen eines Pharmaskandals um verseuchtes Trinkwasser, eines geplanten Braunkohleabbaus in der Lausitz oder einer Offensive für Androiden in der Altenpflege wiederfinden. Weil die aus Brüssel abkommandierte Valerie mit ihrer Pegasus Consulting dem Berliner Platzhirsch ABC & Partner und dessen Überflieger Max möglichst viele Mandate abluchsen will, kämpfen und tricksen beide einigermaßen wahllos mal auf der Großindustrie-, mal auf der NGO-Seite. Ihre moralischen Grenzen scheinen dabei so breit wie die Straße des 17. Juni.
Serienschöpfer Christian Jeltsch ("Kommissarin Lucas", "Die Saat – Tödliche Macht") und sein Writers' Room haben geistreiche Gefechte ersonnen, denen man mit Leichtigkeit folgt, auch weil der romantische Nebenstrang mit einer unverkennbaren Gravitation zwischen den beiden Erzkonkurrenten befeuert wird. In absteigender Hierarchie – wenn auch gespickt mit Insider-Leckerbissen wie dem "Café Albert" als zentralem Lobby-Treffpunkt, dem reißerischen "MachTV" als Ableger einer mächtigen Verlagsgruppe oder einem Spitzenpolitiker-Lachanfall im unpassenden Moment – folgt schließlich der politsatirische Aspekt, der die Absurditäten der außerparlamentarischen Einflussnahme vorführt und dabei zumindest vage auf reale Recherchen zurückgreift. Die Inszenierung von Wolfgang Groos ("Pastewka", "Faking Hitler") und Matthias Koßmehl ("WaPo Duisburg", "Neues aus Büttenwarder") setzt auf opulente filmische Bilder, die ebenso glossy wie dynamisch daherkommen. Nicht umsonst scheint der E-Scooter hier das präferierte Verkehrsmittel zwischen Reichstag, Büro und Talkshow-Studio zu sein.
Nilam Farooq ("Contra", "Soko Leipzig") als Valerie und Helgi Schmid ("Schlafende Hunde", "Professor T.") als Max füllen das Konstrukt des widerstreitenden Screwball-Duos mit so viel innerer Spielfreude und äußerlicher Attraktivität, dass man die bewussste Überhöhung ihrer Figuren gern hinnimmt. Aus den Nebenrollen ragt Ulrike Kriener als Herta "Z" Zickler, die Grande Dame des bundesrepublikanischen Lobbyismus, hervor, die einst schon Helmut Kohl in Bonn beriet und neben einem großen Geheimnis vor allem zahllose humorvolle Anspielungen in die Serienhandlung einbringt. Mögen sich echte Lobbyisten und Lobbykritiker auch darin einig sein, dass Jeltschs Werk ein unrealistisches Bild ihrer Profession zeichne, so befinden sie sich erstens in guter Gesellschaft mit Ärzten, Anwälten und Kriminalkommissaren, während dies zweitens der äußerst vergnüglichen Fußball-Alternative keinen Abbruch tut.
"Wo wir sind, ist oben", Freitag um 23:50 Uhr im Ersten, sowie schon jetzt in der ARD-Mediathek