Gleichgewichte, lehren Natur und Forschung, sind verträglicher als Ungleichgewichte. Feuer & Wasser, Yin & Yang, Plus & Minus, Stan & Oli – nur austarierte Gegensatzpaare sorgen für Harmonie in ihrer schönsten Form: Frieden. Schade, dass unser Hang zur rabiaten Dissonanz alles aus der Balance bringt. „Überbevölkerung, Klimawandel, Social Media“, raunt das Universum zum Start der Disney-Serie „Pauline“ aus seiner unendlichen Weite – die Menschheit stehe „kurz davor, zur größten Enttäuschung der letzten 13 Milliarden Jahre zu werden“.
Alles im Eimer dank Homo sapiens? Nicht aus kosmischer Sicht. „Fairerweise“, räumt das Weltall noch ein, seien andere schuld am Untergang. Himmel und Hölle nähmen schädlichen Einfluss auf die Erde dazwischen. Fiese Dämonen zum Beispiel, eigentlich im Gleichgewicht mit Engeln aller Art. Als die zauberhaft menschliche Titelfigur beim One-Night-Stand mit dem diabolisch süßen Lukas schwanger wird, gerät es allerdings gehörig durcheinander.
Schließlich trägt sie nun das Enkelkind des Satans aus, der im New-Adult-Metier anno 2024 zwar weiblich sein darf, aber ähnlich Böses im Schilde führt wie männliche Teufel. Paulines Baby soll unsere Zivilisation ins Chaos stürzen, die New-Age-WG wehrhafter Himmelsboten der beseelten Eira (Amira Ghazalla) will es vereiteln. Ordnung vs. Zerstörung, Kirche gegen Gottseibeiuns – ganz schön religiös, was das unsortiert vertraute Leben der 19-jährigen Halbwaisen da durcheinanderwirbelt. Und ganz schön magisch.
Denn Pauline ist plötzlich unverwundbar, kann Gedanken lesen und wird dauernd von ihrem Zierfisch angestarrt, als lese er ihre. Vor allem aber ist die Serie ganz schön romantisch, wenn es trotz spiritueller Differenzen gehörig zwischen Teufelssohn und Engelstochter knistert. Willkommen in der popkulturell zurzeit lukrativsten Literaturgattung. Sie nennt sich Romantasy und vereint Lovestorys Heranwachsender mit Mystery-Mumpitz voller Vampire, Elfen, Einhörner.
Hier sind es zwar recht menschliche Monstren wie Andrea Sawatzkis Antichristin im Businessdomina-Dress mit eigenem Tech-Konzern oder ihr Handlanger Tammo, dem Dimitrij Schaad eine saulustige Mischung aus Wolverine und Otto Waalkes verpasst. Dennoch steckt die bilduntonfabrik der Showrunner Matthias Murmann und Philipp Käßbohrer ihre Erfahrungen aus Gemeinschaftsproduktionen wie „Neo Magazin Royale“ und „How to Sell Drugs Online“ ins Mainstreamgenre schlechthin. Klingt ein bisschen kalkuliert.
Ohne den zwei hochbegabten Humorlieferanten der Generationen Y bis Z nahe treten zu wollen, erhofft sich Disney+ von ihnen ja auch die Maximierung der Zugriffszahlen. Und passend dazu hat ihnen Headautor Sebastian Colley ein Kuriositätenkabinett aufgeschrieben, das vier Regisseure um Arabella Bartsch („Love Addicts“) in konventioneller Optik inszenieren. Als wäre es ein Filmgesetz, muss alles Übersinnliche also auch hier rot leuchten, rauchen, Funken schlagen, weil – Hölle, Teufel, Fegefeuer halt. Schon klar.
Und in dieser Klischeeästhetik sucht man dann auch noch vergebens Metaebenen, auf denen sich das Gegensatzpaar Gut-Böse über die handelsübliche Katharsis zentraler Personen hinaus erklären ließe. Mystery ist hier nun mal mysteriös, weil die konsumgesellschafts-, klimawandel- und rechtspopulistenmüde Kernzielgruppe unter 30 dabei angenehm surreal in die Arglosigkeit zwischenmenschlicher Liebesbeziehungen abtauchen kann. Man nennt das Eskapismus – ein toxischer Begriff, dem aber selten zuvor ein wirksameres Gegengift beigemengt wurde.
So sinnentleert die Spukgeschichte von „Pauline“ zuweilen ist, so gehaltvoll sind nämlich viele Hauptfiguren plus Ensemble dahinter. Vor allem die hauptamtliche Schauspielerin („Druck“) und nebenberufliche Rapperin („HyperAktiv“) Sira-Anna Faal bringt Unter- und Überforderung ihrer Alterskohorte, Zukunftseuphorie und -ängste so beeindruckend zum Ausdruck, dass selbst ihr seltsamer Crush auf den leicht linkischen „Discounter“-Proll Ludger Bökelmann alias Peter von Kasse 2 bei Feinkost Kolinski glaubhaft wird. Ihre Liaison ist auf originelle Art anders als vieles, was Coming-of-Age gern als jung vorgaukelt, aber uralte Vorstellungen von Liebe, Sex und Zärtlichkeit wiederkäut.
Verantwortlich dafür ist aber nicht nur der kreative Cast, sondern die präzisen Dialoge aus Sebastian Colleys Writer’s Room. Tammus Engelsbashing „historisch habt ihr euch das Gut-Böse-Framing ausgedacht“, er bevorzuge die wertfreien Begriffe „Chaos und Kontrolle“, holt die Serie aus einer Romantasy-Belanglosigkeit, der auch Pauline und Lukas gelegentlich entkommen. „Wo arbeitest du, Mafia?“, fragt die selbstbewusste Feministin bei einer Portion Pommes vorm eigenen Kiosk. „Schlimmer, Human Ressources und Consulting“, antwortet ihr schüchterner Lover. Dazu Pauline: „Shit, du bist ja wirklich übel.“
Im Sog dieser Anziehungskraft grundverschiedener Mentalitäten wird vieles davon so hinreißend verkörpert, dass man den magischen Firlefanz drumherum simsalabim wegzaubern möchte. Geht aber nicht. Bis ins Finale sogar, wo der aktuell unvermeidbare Damian Hardung einen anschlussfähigen Kurzauftritt hat und seinen Bruder Lukas (also Darsteller Ludger) mit der pfiffigen Doppeldeutigkeit „du siehst aus, als würdest du im Supermarkt an der Kasse arbeiten“ disst.
Selbst die üblichen Sidekicks nonbinärer Natur wie Paulines engster Freund Tony (Lukas von Horbatschewsky) schaffen es in dieser Atmosphäre, ihre Queerness nicht zu überdrehen. Angesichts solcher Qualität könnte Netflix es noch mal bereuen, Disney+ den Stoff freiwillig überlassen zu haben. Denn während wesensgleiche Gruselserien wie „Wishlist“ (Funk) oder zuletzt „Was wir fürchten“ (ZDF) gern den Tiefgang einer Styroporplatte haben, sinkt „Pauline“ gelegentlich bis zum Grund.
"Pauline" steht ab Mittwoch bei Disney+ zum Abruf bereit.