„Viva forever“ sangen die Spice Girls und eine gar nicht mal so gute Show zum Ende von Viva hatte trotzigerweise den gleichen Titel. Weniger bekannt: Als MTV zum Jahreswechsel 2010/11 vom frei empfangbaren Fernsehen ins Pay-TV abwanderte, war das letzte Musikvideo in jener Silvesternacht „Viva forever“. In diesen Tagen hingegen gilt eher: Viva, wherever. Mit dem von Elmar Giglinger und Markus Kavka vorgelegten Buch („MTViva liebt dich“) und jetzt der Doku-Serie von Florida Factual für die ARD Mediathek ist der Musiksender ausgerechnet zum 30. Geburtstag sehr präsent. Warum jetzt? Nun, zum letzten Jubiläum, dem 25. Geburtstag, lag der Sender im Sterben. 

Auch davon erzählt die dreiteilige Doku-Serie „Die Viva-Story - zu geil für diese Welt“ und das sogar ausführlicher als das Buch zum Sender. Während man gedruckt sehr ausführlich in persönliche Anekdoten eintaucht, die nur gelegentlich von Einordnung unterbrochen werden, beweist sich die vorgelegte Doku-Serie von Florida Factual als gut zugänglicher Balance-Akt zwischen Fakten und Erinnerung, Nostalgie und Kritik. Aufstieg, Triumph und Fall des Senders in rund 100 Minuten. Eine nostalgische Zeitreise, visuell stimmig und mit Liebe zum Detail in Szene gesetzt.

Mit Robbie Williams und den Beckhams bei Netflix und der Echt-Doku, ebenfalls in der ARD-Mediathek, mangelt es gerade nicht an Retrotrainment. Ungleich sperriger ist eine Produktion zum Viva-Jubiläum. Ohne leichter zu emotionalisierenden Fokussierung auf eine Person, Familie oder Band stellt sich bei „Die Viva-Story - zu geil für diese Welt“ vorne weg die Frage: Aus wessen Perspektive erzählt man nun? Personalisierte Dokumentationen können plakativ damit hausieren, erstmals Protagonisten ihre Geschichte erzählen zu lassen. Aber hier?

„Die Historie von Viva, wie alles wirklich war oder zumindest so wie sich alle Beteiligten dran erinnern; nämlich immer leicht anders. Die wirklich fast immer wahre Geschichte, immer gnadenlos subjektiv; immer selektiv und vor allem immer mitten rein in die Seele des Senders und der Leute, die diesen Sender möglich gemacht haben“, sagt Nilz Bokelberg gleich zu Beginn. 

Nilz Bokelberg © MDR / Florida / Jens Lindemann

Die Schwierigkeit einer Annäherung an etwas, was über die nackten Fakten durchaus durchaus unterschiedlich erinnert wird, ist in Zeiten von allerlei sehr saloppen „Doku“-Produktionen von fragwürdiger Qualität eine durchaus wertvolle Reflektion, die (Erwartungs)druck aus dem Kessel nimmt. „Die Viva-Story“ maßt sich nichts an und lässt auch Raum für Dissenz; hat gleich wohl aber mehr journalistischen Anspruch als das sehr anekdotische „MTViva liebt dich“ in Buchform.

Die frühen Jahre erzählt uns Nilz Bokelberg, der ein bisschen eloquenter und präsenter durch die erste Folge führt als danach Markus Kavka. Fas Finale liegt in den Händen von  Collien Ulmen-Fernandes, die den Abgesang auf Viva übernimmt. Musikalisch gemeint, aber irgendwie auch gesellschaftlich passend ist Bokelbergs Analyse zum bunten Viva-Mix von früher: „Die 90er waren eine Zeit, in der alle so problemlos nebeneinander stehen konnte." Ein Nebeneinander einer Zeit in der gemeinsamer Medienkonsum auch Konsens bedeutete. Der eigene Geschmack; die eigene Meinung war noch nicht das Maß der Dinge, die Filter-Bubbeln der Social Networks noch nicht erfunden.

Einen herrlichen Einstieg in die Viva-Geschichte liefern alte Aufnahmen von damals. Etwa frühes Material von Matthias Opdenhövel, der mit seiner Optik von damals verkleidet heute Ruth Moschner zum Narren halten könnte. Aber Opdenhövel liefert nicht nur optisch, auch inhaltlich: „Es war sehr weit weg von professionell“, amüsiert er sich über die frühen Jahre von Viva. „Vom Praktikum zum verantwortlichen Redakteur waren es manchmal gefühlte zwei Wochen.“ Einige, leider nicht allzu viele, Szenen zeugen auch vom positiven Redaktionschaos des in Gründung befindlichen Senders. Irre im Rückblick auch eine Sondersendung zum Ausstieg von Robbie Williams bei „Take That“.

 

„Mit großer Macht kommt große Verantwortung - das wusste schon Spiderman.“

 

Da wurden die jungen Moderatorinnen und Moderatoren von Viva zum ersten Mal auf die Probe gestellt, die bis dato nur für gute Laune zuständig waren. Ohne vorsortierte eMails oder Tweets waren unberechenbare Live-Telefonate ins Studio damals der Kommunikationsweg zwischen junger Zielgruppe und Viva, was dem OnAir-Team (zu) viel abverlangte. Heute kann Nilz Bokelberg darüber scherzen: „Mit großer Macht kommt große Verantwortung - das wusste schon Spiderman.“ Damals aber Unbeholfenheit, etwa wenn Mola Adebisi unfreiwillig lachen muss als am Telefon jemand von Selbstmordgedanken erzählt - wegen einer Boyband-Trennung.

Man merkt schnell, gerade nach der Lektüre des Buchs von Giglinger/Kavka, dass bewegte Bilder bei einem Stück TV-Geschichte natürlich noch einmal mehr transportieren können. Und es zeigt sich: Der 30. Geburtstag des Senders ist die ideale Zeit, nutzt ein wertvolles Momentum, die die Produktion unter der Regie von Thorsten Berrar, der zusammen mit Luzia Niedermeier auch das Buch geschrieben hat, vor Schönfärberei bewahrt. 

Die meisten der heute zu damals befragten Viva-Köpfe sind weiter in der Medienbranche aktiv, können Erinnerungen von damals also in Kontext späterer Erfahrungen setzen und verfallen noch nicht in verklärende Nostalgie, wie es leider oft von TV-Größen im Ruhestand zu vernehmen ist, seit genügend Podcasts im Land sie nochmal von der eigenen Großartigkeit referieren zu lassen.

Was bei der Doku-Serie weniger Raum einnimmt als im Buch zum Jubiläum ist die Bedeutung des Medium Fernsehens für die Musikindustrie und wie die Kunstform Musikvideo erst einmal verstanden werden wollte. Nur kurz wird der Umstand angesprochen, dass mit Viva die deutsche Musikbranche erstmals großflächig Sichtbarkeit bekam. „Das war ein totaler Dammbruch“, sagt Christoph Post, einer der Mitgründer des Senders, den man völlig unterschätzt habe.

Dafür widmet sich die Doku-Serie hingegen weitaus intensiver dem Abgesang und Niedergang von Viva. „Das war ja kein Sterben, das war ein Siechen“, wie es Klaas Heufer-Umlauf im Gespräch mit Collien Ulmen-Fernandes formuliert. Sein Blickwinkel, wie auch der von Gülcan Kamps und insbesondere Tobias Schlegl sind wertvolle Bereicherungen. Andere schmollen lieber noch ein bisschen. 

Dass Sarah Kuttner und nicht er die Jubiläumssendung zum zehnten Geburtstag von Viva moderieren durfte, läuft Mola Adebisi offenbar noch nach - und war einst der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Kurz darauf ging Captain Mola bei Viva von Bord. Er selbst erinnert sich: „Ein schäbiges Ende.“ Dazwischen aber liegt noch die Hochzeit von Viva, erzählt in Folge 2 der Dokuserie von Markus Kavka.

Markus Kavka © MDR / Florida / Timo Semmler

Das Geschäft brummte Ende der 90er Jahre. Und ein Geschäft, genau das war es. Die fehlende Distanz, die Kungelei… sie wird benannt - und weitaus weniger romantisiert als in den länglichen Anekdoten aus „MTViva liebt dich“. Kavka erinnert sich: „Natürlich hat man sich gegenseitig nette Gefallen getan. Es gab für Drehs Produktionskostenzuschüsse. Man könnte das natürlich auch anders deklarieren: So von wegen ‚Wir geben Euch Geld, damit ihr ein Interview mit unseren Künstlern macht‘“.

„Alle haben gegenseitig voneinander profitiert“, fasst Elmar Giglinger zusammen. Was uns zum retrospektiv von allen verehrte Viva Zwei bringt,  nicht zu verwechseln allerdings mit dem erfolglosen Versuch zuvor als Viva 2 eine noch langweiligere Alternative zu VH-1 zu positionieren. Der Claim: „Die Zukunft mit Vergangenheit“. Das korrigierte dann der neue Chef Giglinger, erzählt in Dokuserie wie Buch von den Höhen (Kavka, Roche, Feuilleton) und Tiefen (Niels Ruf) von Viva Zwei. 

 

"Viva Zwei - der Kurt Cobain des Musikfernsehens.“

 

Zum Börsengang der Viva Media AG war dann jedoch Schluss mit Liebe, weil die Kasse nicht stimmte. „Viva zwei war ein Ding, was verglühen musste nach einer kurzen so intensiven Zeit“, urteilt Markus Kavka. „Der Kurt Cobain des Musikfernsehens.“ Was dank der Dokuserie aber auch nochmal in Erinnerung kommt: Subversiv, das ging bei Viva schon vor Viva Zwei mit Tobias Schlegl („So eine Freiheit hatte ich nie mehr“). 

Immer wieder bescheren die gute 100 Minuten kleine Aha-Momente, für manche Zuschauerin und Zuschauer wird das schon zu Beginn der Fall sein, als das offene Geheimnis hinter dem Namen Viva noch einmal aufgegriffen wird und nicht wenige zum ersten Mal hören, dass der Sendername eine Abkürzung für Videoverwertungsanstalt war. Eine Anstalt, die schon in den 90ern divers war, wie lobend erwähnt wird. Mit einer Korrektur: „Bunt, die haben bunt gesagt“ erinnert sich Viva-Moderatorin Milka Loff Fernandes.

Auf den großen Erfolg folgte Größenwahn inklusive dem fatalen Börsengang. „Tschuldigung Mama und Papa“, sagt Tobias Schlegl. Seine Eltern haben damals VIVA-Aktien gekauft. Doch der Spaß hatte nicht nur wirtschaftlich ein Ende: Der 11. September kam, dann der Irak-Krieg. „In der Viva-DNA war immer festgelegt: Wir sind nicht politisch - und dann kam der 11. September. Natürlich war jeder politisch. Da war Angst im Raum“, erinnert sich Milka Loff Fernandes.

„Es war naiv und verantwortungslos“, sagt Tobias Schlegl über die Live-Strecke am Tag nach dem 11. September. Wie einst beim ungleich weniger dramatischen Thema der „Take That“-Trennung wirkte der inzwischen eigentlich erwachsenere Sender überfordert. Man versuchte sich als Sprachrohr des Publikums; wollte das nicht alleine lassen. Auch Schlegel räumt ein: „Es tat einfach gut zu reden. Deswegen war das schon okay.“

Collien Ulmen-Fernandes © MDR / Florida / Tom Ballschmieter

Mit dem Ende der Spaßgesellschaft und ohne Ausblick auf vermeintlich grenzenloses Wachstum kam der Niedergang, wenn auch tatsächlich schleichend und erstmal in Form der Übernahme durch MTV. Das schmerzhafte Kapitel erzählt in der "Viva Story" Collien Ulmen Fernandes. Sie kam als Teil einer nochmal ganz neuen Generation von Moderatorinnen und Moderatoren. Viele davon sind der Branche bis heute erhalten geblieben. Gülcan Kamps („Viva und ich, das war wie verheiratet“), Collien Ulmen-Fernandes, Klaas Heufer-Umlauf, Jan Köppen, Oliver Pocher und andere.

Längst war Viva im Wandel: Die Musikindustrie implodierte, weil man das Internet unterschätzte. Viva konnte sein altes Versprechen an die Plattenfirmen nicht mehr halten: Was auf VIVA läuft, wird ein Kassenschlager. Gleichzeitig platzte die erste Internet-Blase und die Viva Media AG war mitten drin im Börsenchaos. Das Programm wandelte sich, Musik wurde weniger elementar - und dann gingen viele Gesichter. 

Und dann endete 2018 alles in einer schaurig schäbigen Abschiedsshow, die so gar nicht passte zu dem Pop-Phänomen. Umso schöner, dass Florida Factual für die ARD Mediathek und ARD Kultur nochmal reingeschaut hat und nun auch den Deckel drauf machen konnte. Jetzt darf es in Frieden ruhen, das liebe Viva.

"Die Viva-Story - zu geil für diese Welt" ist in der ARD-Mediathek und auf ardkultur.de abrufbar. Im TV ist die Produktion am 6. Januar 2024 um 21.45 Uhr beim WDR und am 16. Januar 2024 um 22.25 Uhr bei 3sat zu sehen.