Eines sei gleich vorweg gesagt: Über weite Strecken ist "Deutsches Haus" schwer zu ertragen. Die industriell durchstrukturierte Tötung von Juden und anderen vermeintlich minderwertigen Menschen im Vernichtungslager von Auschwitz wird zwar kein einziges Mal bildlich gezeigt. Dafür wird in allen Einzelheiten über die menschenverachtenden Gräueltaten geredet – so wie es tatsächlich ab 1963 im ersten Auschwitz-Prozess vorm Frankfurter Schwurgericht ablief, wo ranghohe Ex-SS-Offiziere als Angeklagte und Überlebende als Zeugen aufeinandertrafen.
Auch wenn es schmerzt, sollte, ja muss man sich diesem herausragenden Fünfteiler stellen, um gerade in heutiger Zeit mit Herz und Kopf zu erfassen, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir das Bekenntnis "Nie wieder!" ablegen. Drehbuchautorin und Showrunnerin Annette Hess hat "Deutsches Haus" als wichtigstes Werk ihrer Karriere bezeichnet. Dem kann man nur zustimmen: Über ihre zeithistorischen Familiensagen "Weissensee" und "Kudamm" hat sie sich rückwärts in die traumatisierte Psyche der Nachkriegsgesellschaft vorgearbeitet und ist nun an der Wurzel des Übels angelangt.
"Deutsches Haus" funktioniert – als Serie wie als Roman – durch einen erzählerischen Grundkniff, für den man Hess gar nicht genug preisen kann: Indem sie die Perspektive der fiktiven jungen Gerichtsdolmetscherin Eva Bruhns wählt, gelingt es ihr, das Unfassbare als schockierende Erkenntnis durch völlig ahnungslose Augen zu betrachten, die zwar persönlich unbelastet, aber unterbewusst eben doch von verdrängter Familienschuld geprägt sind. Durch diesen Dreh wird die besondere Eindringlichkeit des Stoffs erst möglich, auch weil – so viel Ehrlichkeit sollte sein – jüngere Zuschauergenerationen von heute teils mit einer gewissen Naivität auf die Vergangenheit blicken und hier im Idealfall mit Eva lernen können. "Deutsches Haus" – von Disney international unter dem Titel "The Interpreter of Silence" vermarktet – vermag für die Neuzeit damit Ähnliches zu leisten wie Ende der 70er Marvin J. Chomskys US-Serie "Holocaust", die mit einer ersten seriellen Emotionalisierung des NS-Grauens für breite Debatten sorgte.
Damit aus einem starken Grundkonstrukt ein fesselndes Serienerlebnis wird, braucht es weitere Zutaten, die hier alle vorhanden sind und unter Hess' kreativem Kommando bestmöglich zusammenwirken. Aus ihrer bereits filmisch anmutenden Romandramaturgie hat sie beklemmende Szenen mit intensiven Dialogen entlehnt. Von der ebenso spießigen wie brüchigen Familienidylle der Bruhns, die in Frankfurt die Traditionswirtschaft "Deutsches Haus" betreiben, öffnet sich Evas Welt auf radikalste Weise, als sie von der Staatsanwaltschaft als Polnisch-Übersetzerin für den Auschwitz-Prozess engagiert wird. Die Serie folgt der zermürbenden Systematik aus sprachlos machenden Zeugenvernehmungen und meist lakonischen Leugnungen seitens der Angeklagten – bis hin zu einem gerichtlichen Ortstermin in den alten KZ-Anlagen – und bedenkt Eva zwischendurch noch mit einer schleichenden Emanzipation vom Verlobten sowie der schonungslosen Aufklärung der Verstrickung ihrer Eltern.
Zumutungen und Konventionsbrüche sind bewusst eingebaut. So nimmt etwa die Verlesung der Anklageschrift gegen Ende der ersten Episode volle sieben Minuten in Anspruch, während derer kaum mehr zu sehen ist als Close-up-Aufnahmen vom Gesicht des Richters und vom Wasserglas, aus dem er immer wieder trinken muss. Eine Schweigeminute der deutschen Delegation beim Auschwitz-Besuch in der vierten Episode wird in voller Länge und ohne jegliche Ablenkung ans Publikum weitergegeben. Alle erwartbaren Bilder wiederum – seien es historische Aufnahmen vom KZ oder ikonische Stellen der heutigen Gedenkstätte wie das "Todestor" mit den darauf zulaufenden Schienen – bleiben strikt außen vor. Kurzum: Die beiden Regisseurinnen Randa Chahoud und Isabel Prahl haben im engen Schulterschluss mit Hess' Vision und mit Produzentin Sabine de Mardt eine sensible, aber unumwundene, stets aufs Wesentliche konzentrierte Inszenierung geschaffen. Tiefe Erschütterung statt hohlem Erinnerungskult.
Das hochmotivierte A-Liga-Ensemble vor der Kamera setzt hinter all das ein dickes Ausrufezeichen. Während ein solches Star-Aufkommen anderswo für drei bis vier Serien reichen würde, können hier nur ein paar Leistungen stellvertretend hervorgehoben werden: Iris Berben etwa als Ärztin, die Mann und Kinder in Auschwitz verloren hat und die volle Wucht an Schmerz und Wut in den Gerichtssaal feuert. Henry Hübchen als psychotischer Versandhausmillionär und Evas zwischenzeitlicher Schwiegervater in spe, den all die Verdrängung um ihn herum buchstäblich krank macht. Anke Engelke als Evas Mutter, deren betonfeste Fassade nach ersten Rissen eine regelrechte Kernschmelze erfährt. Martin Horn und Heiner Lauterbach als (real existierende) Angeklagte Robert Mulka und Wilhelm Boger, die die Gratwanderung zwischen gefühlskalten Monstern auf der Anklagebank und feinfühligen Privatmenschen außerhalb des Gerichtssaals meistern.
Wie schön, dass neben all den Stars eine starke Nachwuchskraft die Hauptrolle mit genau jenen Facetten zwischen jugendlicher Naivität und brutaler Wahrheitssuche auflädt, die Eva Bruhns als Figur glaubwürdig machen. Katharina Stark als Entdeckung zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Die 25-Jährige ist das Gesicht und Herz der Serie, deren gesamte Ausrichtung sie perfekt verkörpert. Nach "Sam – Ein Sachse" hat Disney+ zum zweiten Mal viel gewagt – und sich zwischen all seine Marvel- und "Star Wars"-Titel einen brillanten Fremdkörper gelegt, der erschreckenderweise nicht besser zur Gegenwart passen könnte.
"Deutsches Haus", zum Abruf bei Disney+