Himmel, kann Lea Drinda böse gucken! Böser noch als ihre beschaffungskriminelle Filmfigur in der Amazon-Serie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", böser sogar als ihre genderfluide Filmfigur in der ZDF-Serie "Becoming Charlie". Ihre umweltbewegte Filmfigur in der ARD-Serie "Wer wir sind" scheint aber auch besonders böse Sachen zu machen – sonst würde Catrin Kogan ja nicht fragen, was sie mit einer Waffe vorhatte, als Luises Mutter ihre Tochter in einer Gefängniszelle besucht.
Doch der Reihe einer sechsteiligen Story nach, die Charlotte Rolfes im Rückblick einer ausgeuferten Demo am fiktional unterrepräsentierten Drehort Halle erzählt: Dort nämlich gerät die Teenagerin kurz vorm Abi auf ein linkes Protestcamp gegen den Entsorgungsunternehmer Noll (Jörg Schüttauf). Als rechte Hooligans angreifen, gerät Luise also zwischen vier Fronten einer Eskalation inklusive Plünderungen, an der rassistische Polizisten und populistische Medien (g)eifernd mitzündeln.
Viel soziokultureller Zeitgeist, der in den ersten paar Minuten durch viereinhalb Stunden Realfiktion fließt. Spätestens im zweiten Drittel der Auftaktfolge aber zeigt sich, dass der Writer’s Room um Headautorin Marianne Wendt mehr in seine Bücher packt als die Reaktionsmuster einer gespaltenen Gesellschaft im Dauerkrisenmodus. Denn kaum hat sich der Pulverdampf verzogen, geht abseits vom Schlachtfeld ein ereignisreicher Alltag weiter.
Im Resozialisierungsprojekt "Haus der Jugend", kurz HDJ, etwa gerät Betreuer Alex (Shenja Lacher) mit dem Bewohner Dennis (Florian Geißelmann) aneinander, dessen ältere Schwester Vanessa (Mina-Giselle Rütter) schwerverletzt auf der Intensivstation liegt, nachdem Catrins Lover (und Kollege) Marco (Robin Sondermann) den schwarzen Protestierer Felix (Chieloka Jailus) auf derselben Demo misshandelt hat, was seinen Vater (und Staatssekretär) Idrissa (Philip Bender) anzeigt und Öl ins Feuer aufgeheizter Debatten ums HDJ gießt.
Damit nicht genug, zieht der gehörnte Alex zurück in den Plattenbau seines jüdischen Vaters unweit von Dennis erziehungsunfähiger Mutter (Natalia Rudziewicz), deren rechtsradikaler Freund (Jannik Hirsch) an Vanessas Verletzung mindestens mitschuldig scheint. Ganz schön komplex, was Viafilm im ARD-Auftrag produziert haben. Etwas zu komplex, ließe sich nach Ansicht dreier Teile einwenden. Es sind ja nicht nur alle Beteiligten um vier Ecken verbandelt; viele pflegen private Beziehungen, die alles noch verworrener machen.
Wobei "Wer wir sind" nicht nur an der Überdosis Charaktere und Themen leidet, sondern wie so oft am öffentlich-rechtlichen Missmanagement fiktiver Milieustudien. Mangels biografischer Bezüge muss Marianne Wendt (als Jahrgang 1975 Generation X) sich viele Informationen über ihre Protagonisten (als Jahrgang 2005 Generation Z) aus zweiter Hand besorgen. Und weil das naturgemäß klischeeanfällig macht, zieht sie gern Floskeln aus der Dialogkommode, Schublade "Jugendkultur" zum Beispiel, Seitenfach "Widerstandsfolklore".
Dass sich NGO-Profis beim Hausfriedensbruch einer vergifteten Mülldeponie gegenseitig "wenn euch jemand von der Security erwischt: keine Gewalt" oder "wenn ihr verhaftet werdet: keine Aussage" zuraunen, ist so realistisch, wie Polizisten, die am Tatort von "kriminaltechnischer Untersuchung" statt "KTU" sprechen oder Todeszeitpunkte spezifizieren, die nur der Rechtsmedizin zustehen. Kommt alles vor, ist alles so doof wie didaktisch, hier allerdings zu vernachlässigen.
Stereotype in beachtlichen Bildern
Viele Stereotype, die Regisseurin Rolfes in beachtliche Bilder packt, dienen am Ende schließlich dem Verständnis einer Erzählung, die vor allem zwei Darstellern Dringlichkeit zu verdanken hat: Shenja Lacher und Florian Geißelmann. Während das Red-Flag-Personal trotz – aber auch wegen – Lea Drindas zornig naivem Mimik-Ballett so ähnlich auch in der CSU-Broschüre "Linksradikale" vom Kreisverband München-Land stehen könnte, wirken der Betreute und sein Betreuer authentisch, als hätten sie mit Natalia Rudziewicz und Jannik Hirsch als kindswohlgefährdende Zweckgemeinschaft am Brennpunkt Hasenbergl geprobt.
Ihr Distanztango transportiert den vielseitigen Plot glaubhafter durch tiefe Gräben entfremdeter Schichten als Nebenschauplätze von sexueller und politischer Identitätsfindung bis Corpsgeist oder Racial Profiling, die teils eher der Handlungsfülle als -konsistenz dienen. Ihretwegen weiß man nach dreimal 45 Minuten nie, wohin das Ganze will. Schlimmer: Da Fragen nach Ursache und Wirkung ideologisch motivierter Gewalt häufig emotional beantwortet werden, droht der Sechsteiler abseits aller Sprengkraft, ins Gefühlsduselige abzugleiten.
Was er definitiv nicht verdient – fügt "Wer wir sind" dem Kanon sozialkritischer Fiktionen vom richtigen Leben im Falschen doch durchaus neue Facetten hinzu. Seit "Die fetten Jahre sind vorbei" leuchten Film & Fernsehen jugendliche Renitenz ja regelmäßig aus, ohne dem Publikum Urteile vorzubeten. Während die Paramount-Serie "A Thin Line" vorigen Februar dafür mit zwei Cyberterroristinnen in den antikapitalistischen Untergrund ging, klebt die Neo-Serie "Aufgestaut" vier Klima-Aktivisten arglos, aber folgenschwer am Asphalt fest.
Wenn die ARD-Mediathek den (legitimen) Protest gegen profitgesteuerte Umweltverseuchung in (illegale) Gewalt ausarten lässt, sortiert sie die Suche nach Schuldigen da mittig zwischen ordnungswidrig und strafbar, diskutabel und justiziabel. Auch dank der originell eiernden Musik von Philipp Thimm wird man dabei jedoch nie genötigt, Partei zu ergreifen. Viel mehr darf man von Politainment mit Privatsphären wohl kaum erwarten. Viel weniger aber auch nicht.
"Wer wir sind" steht ab 10.11. in der ARD-Mediathek, die lineare Ausstrahlung im Ersten folgt am 15.11. ab 20:15 Uhr und 17.11. ab 22:20 Uhr