Deine beste Freundin ist völlig durch den Wind. Beinahe ausdruckslos und nur zögerlich berichtet sie Dir von der vergangenen Nacht und Sex mit diesem Typ, mit dem sie eine Affäre hat. Sie wollte eigentlich nicht. Sie hatte das auch gesagt, es aber dann geschehen lassen…

Fassungslosigkeit. Wut. Du erinnerst dich an eine befreundete Anwältin, die du ihr empfiehlst. Damit dürfen so Typen wie er nicht durchkommen! Deine beste Freundin aber blockt ab, will nichts von Anwältinnen wissen, braucht jetzt erstmal dich. Sie ist mehr irritiert über das was vorgefallen ist als verletzt. Zu diesem Zeitpunkt jedenfalls.

Was Du noch nicht weißt: Dieser Typ, um den es geht, ist Dein Vater…

Als Deine beste Freundin ihn anspricht auf die vergangene Nacht und auf völliges Unverständnis trifft, schmerzt es noch einmal. „37 Sekunden“, eine der spannendsten deutschen Serien dieses Jahres, erzählt vordergründig die Geschichte von einer Begegnung der titel-gebenden Länge, die von beiden Seiten völlig unterschiedlich bewertet wird, aber in den sechs Folgen entfaltet die Geschichte von Julia Penner und David Sandreuter eine Komplexität über die Schuldfrage hinaus. 

37 Sekunden © ARD Degeto / Odeon Fiction /Barbara Bauriedl Leonie (Paula Kober) und Carsten (Jens Albinus)

Es geht um den Wunsch nach Verständnis, um Einsicht, um Loyalität und auch die Unumkehrbarkeit von Taten und Worten - zwischenmenschlich wie auch medial, denn der Vater ist ein erfolgreicher und bekannter Musiker. Und das Opfer eine aufstrebende Musikerin. Gefundenes Fressen also für den Boulevardjournalismus. Es geht damit auch um die Rolle von Medien und Macht. Mehr sollte man an dieser Stelle eigentlich nicht verraten, um die Irrungen und Wirkungen der sechs Folgen nicht vorweg zu nehmen, wenn man sich nicht die Spannung nehmen lassen will. 

Dass die Produktionsfirma Odeon Fiction, gemeinsam mit ARD Degeto verantwortlich für die Produktion, zum Start von „37 Sekunden“ in der ARD-Mediathek in einer Pressemitteilung gleich mal fast gesamte Geschichte vorweg nimmt, hat fast etwas von Sabotage, gerade weil es der herausragenden Schauspielleistung des Casts zu verdanken ist, dass man sich als Publikum bis zum Ende schwer tut mit Sympathien und der Schuldfrage. Keine dieser Wendungen sollte man vorweg nehmen.

Ohne die Leistung der anderen Kolleginnen und Kollegen zu schmälern, ist es zweifelsohne das Trio aus Jens Albinus, der den Popstar Carsten Andersen spielt, Emily Cox als Tochter Clara Andersen und Paula Kober als das Opfer des zu klärenden Übergriffs, die diese einerseits leise aber auch furiose Geschichte tragen. Einen Glückwunsch ans Casting. Dank einer so gelungenen Besetzung muss man sich auf die Story konzentrieren, weil durch das überzeugende und irritierende Spiel des Trios einfach keine schnelle Vorverurteilung gelingen will. Und wie oft schon waren Rollen leider viel zu eindeutig besetzt! Hier definitiv nicht.

37 Sekunden © ARD Degeto / Odeon Fiction / Barbara Bauriedl Noch hält die Familie zusammen

Die anfangs schleichende Eskalation zwischen diesem Trio, verbunden mit immer größeren Kollateralschäden für Familie und Freunde, entwickelt einen Sog, bei dem man sich als Zuschauerin oder Zuschauer in späteren Folgen neben der eigentlichen Schuldfrage immer häufiger fragt, wohin das alles noch führen soll. Nun gibt es viele Filme, die sich einem Vergewaltigungsvorwurf widmen. Können aber 37 Sekunden über gleich sechs Episoden tragen? Sie können. Längen gibt es nicht, jede Ruhepause wird dringend benötigt. Bemerkenswert ist übrigens die Musik. Der Soundtrack wurde, passend zur dem Hintergrund der Branche in der die Geschichte spielt, von Jens Albinus, Emily Cox und Paula Kober eingesungen.

Es ist bei so viel Liebe zum Detail und dem - trotz einer zwischenzeitlich irritierenden Wendung in der finalen Folge - insgesamt starken Ergebnis wirklich bedauerlich, dass diese Serie nun mitten im Sommer vergeudet wird - und eine Schande, dass ein so perfektes Beispiel für öffentlich-rechtliche Unterhaltung von der ARD im Ersten dann erst irgendwann am späten Abend ab 22.50 Uhr und noch dazu an nur zwei Abenden mit je drei Episoden bis nach 1 Uhr nachts versendet wird. „37 Sekunden“ beweist, warum gute Unterhaltung öffentlich-rechtlicher Auftrag sein kann. Beweist aber leider auch, wie man Beitragsgelder verschwendet, wenn es linear dann so versendet wird. Hauptsache zur Primetime läuft die Arzt-Soap „In aller Freundschaft“ und Krimiserie „Die Heiland“. 

Ein Highlight wie diese Serie aus der Feder von Julia Penner und David Sandreuter - dank der Regie von Bettina Oberli sehr nah und unmittelbar inszeniert - nur auf Abruf ins Regal der Mediathek zu stellen, ihr aber das große Schaufenster zu verweigern, ist ärgerlich. Denn auch wenn immer mehr Menschen zeitsouverän über die Mediatheken konsumieren, so bleibt es eine öffentlich-rechtliche Stärke, Menschen gewisser demografischer Gruppen über das unverändert sehr erfolgreich lineare Programm an Themen heranzuführen, vielleicht sogar herauszufordern. Das ist schließlich die Daseinsberechtigung öffentlich-rechtlicher Unterhaltung.

Die sechs Folgen von "37 Sekunden" sind ab sofort in der ARD-Mediathek abrufbar und werden am 15. sowie 22. August jeweils ab 22.50 Uhr im Dreierpack im Ersten versendet.