Seit 22 Jahren ist DWDL.de gleichermaßen Chronist und Kritiker des Rundfunks in Deutschland, hauptsächlich des Bewegtbilds, egal ob linear oder auf Abruf. Wir feiern bei Erfolgen für den Kreativstandort Deutschland gerne mit, legen gleichermaßen den Finger in die Wunden, wenn es denn geboten ist, Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Wer so nah dran ist, spürt die Stimmung eines Marktes sehr intensiv - und derzeit ist sie von einer Ernüchterung geprägt, die nicht einmal zu Zeiten der Bankenkrise vor 15 Jahren zu vernehmen war.
Denn damals trafen makro-ökonomisch schwere Zeiten auf ein intaktes lineares Fernsehen, noch nicht herausgefordert von wesentlich veränderten Nutzungsgewohnheiten. Anders gesagt: Die Umstände waren auch damals schwierig, aber das eigene Geschäftsmodell nicht in Frage gestellt, wie es kürzlich selbst Disney-CEO Bob Iger tat. Im Jahr 2023 ist die Herausforderung ungleich komplexer, was sich schon daran zeigt, dass sich selbst drüben in den USA die größten Player nicht einig darüber sind, wohin die Reise geht.
In den vergangenen drei Jahren wurden dort mehrfach teils radikale Strategien ausgerufen und wieder kassiert. Auf den Boom des kostenpflichtigen SVoD folgte zuletzt der erklärte Trend zu AVoD bzw. FAST Channels. Doch gerade als im Streaming die gute alte Werbefinanzierung wieder on vogue wurde, bricht ausgerechnet der Werbemarkt ein - und das in Deutschland zum Rätsel aller sogar noch deutlicher als in anderen europäischen Märkten.
Beschönigen wir nichts
Wenn beim Publikum das Budget für monatliche Abos nicht gerade steigt, gleichzeitig die Werbung schwächelt, stellt sich überspitzt die Frage: Woher soll in Zukunft jenes Geld kommen, das in die deutsche Kreativwirtschaft gesteckt werden kann? Auf den kraftstrotzenden Boom des Free-TV in den 2000er Jahren insbesondere durch Format-Fernsehen folgte zu Beginn der 2010er Jahre die kurze Phase des in der Wirtschaftlichkeit angekommenen Pay-TV, bevor dann ab 2014/15 das Streaming auch in Deutschland viel versprach. Zu jeder dieser Zeiten gab es ein Finanzierungsmodell, das für Fantasie im Markt sorgte; auf das Kreative wie Firmen ihre Ideen und Angebote ausrichteten.
Und jetzt? Beschönigen wir nichts: Wir erleben eine Krise, die sich bereits auf die kreativen Gewerke sowie Produktionslandschaft inklusive Dienstleistern auswirkt, weil die Luft immer dünner wird. Nach dem Schock über den schwachen Start ins Werbejahr 2023 hieß es in den vergangenen Monaten, die Hoffnungen lägen auf dem zweiten Halbjahr. Doch das hat längst begonnen, aber mitten in diesem „Sommer“ ist noch keine nachhaltige Trendwende in Sicht. Bis die letzten Bundesländer überhaupt ihre Sommerferien beendet haben, ist Mitte September. Optimisten sagen: Auf das vierte Quartal, traditionell das stärkste, wird es ankommen.
Das sagen die Vermarkter. Doch im Produktionsgeschäft und damit letztlich auch in allen Gewerken schwindet die Hoffnung, dass ein Anziehen der Investitionen sich überhaupt noch in diesem Jahr wieder in ein steigendes Produktionsvolumen durchschlagen wird. Manch einer aus dem Produktionsgeschäft setzt inzwischen Hoffnungen erst aufs neue Jahr. Wohl dem, der sich das Überbrücken dieser Zeitspanne leisten kann. In das Warten auf den Aufschwung mischt sich zusätzliche Unruhe, etwa durch die Ankündigung von Sky, aus der fiktionalen Auftragsproduktion in Deutschland auszusteigen. Ein Schlag für die Branche, wie es nicht nur UFA-CEO Nico Hofmann einordnete.
Wer nicht in der Branche arbeitet, wird das gezeichnete Bild vielleicht als recht düster empfinden. Tatsächlich wird ja eifrig produziert; fast alle Sender haben neue Formate und Ideen angekündigt. Nicht so viele wie früher, aber immerhin. Auch Serienprojekte entstehen insbesondere für Mediatheken und Streamer, in den Journalismus als Prestige-Genre wird auch hier wie dort weiter investiert und einige non-fiktionale Hitformate aus dem Ausland werden gerade für Deutschland adaptiert. Dass aber aktuell im Programm intensiver als in früheren Jahren mit Wiederholungen überbrückt wird, ist ein leiser Vorbote fürs Publikum, das jedoch erst verzögert mitbekommen wird, wenn von oben der Geldhahn weniger stetig die Euros in den Kulturbetrieb Fernsehen fließen lässt.
Politische Debatten belasten zusätzlich
Den Output in Sendeminuten möchten gerne alle Auftraggeber unverändert hoch halten, nur müsste das, was beauftragt wird, immer häufiger bitte noch ein bisschen billiger sein. Produktionsgewerbe und Dienstleister klagten neulich schon öffentlich über im Grunde nicht mehr vorhandene Margen. Als wäre die Situation nicht angespannt genug, verschärfen zwei politisch motivierte Diskussionen die Existenzängste: Einerseits die medienpolitische Debatte darüber, ob Unterhaltung zum Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen gehört, und dann die Bestrebungen um ein Werbeverbot für Süßigkeiten, das - wertfrei festgestellt - weiter an der Refinanzierung des privaten Rundfunks sägt.
In einer durch Social Media über Jahre auf Verkürzung und Zuspitzung getrimmten Debattenkultur sind populäre Antworten auf beide Fragen sehr schnell gefunden. Ohne inhaltlich darauf einzugehen, lässt sich festhalten: Beide Debatten belasten in einem so schon außerordentlich herausfordernden Jahr die Stimmung und Perspektive für die Kreativwirtschaft zusätzlich. Dass einige Streamingdienste bei Projektauswahl, Genrevielfalt und Budgetausstattung weitaus strenger geworden sind als zu den vermeintlich goldenen Zeiten der Serie und zunehmend auf non-fiktionale, weil kostengünstigere Unterhaltung, setzen, trübt das in den vergangenen Jahren mit Neugründungen auf Produzentenseite begleitete Segment der Highend-Fiction.
Immerhin: Die Fokussierung auf kürzere Serienformate, im Grunde hintereinander geschaut oft gerade mal in der Länge eines Spielfilms, ermöglicht in den öffentlich-rechtlichen Mediatheken eine bislang ungekannte Bandbreite an erzählten Geschichten und Charakteren. Da wird plötzlich extrem viel probiert. Froh kann sein, wer sich hier Aufträge sichern konnte. Doch nachdem jede öffentlich-rechtliche Anstalt einmal progressive Schlagzeilen machen wollte mit ihrer mutigen Budgetverlagerung vom Linearen in die Mediathek, wurden zuletzt auch schon wieder Stimmen in den Sendern laut, die mahnen, nicht per Gießkannenprinzip Budgets in den Mediatheken versickern zu lassen.
Nicht nur Hollywoodstudios können Kehrtwenden. Es fügt sich ein in eine Wahrnehmung, dass vermeintliche Gewissheiten heute eine immer kürzere Gültigkeit haben, was sich nicht immer mit längeren Entwicklungs- und Produktionszeiträumen verträgt. Und so ist der Sommer 2023 eine seltsame Mischung aus Unruhe einerseits und einer Lethargie andererseits. Die Ungewissheit, wann die Branche mal wieder festen Boden unter den Füßen haben wird und welchen Weg es dafür zu beschreiten gilt, trifft auf die Mantra-artig vorgetragene und verständliche Hoffnung, dass im zweiten Halbjahr, nein vierten Quartal, nein 2024 oder halt irgendwann einmal wieder besser werden möge.
Wir können von Corona lernen
Wie kommen wir da raus? Es würde anfangen damit, sich ehrlich zu machen. Abgesehen von vereinzelt unternehmerischen Fehlentscheidungen und deren Konsequenzen ist es schließlich eine gemeinschaftliche Herausforderung, den Produktions- und Kreativstandort Deutschland nicht abzuwürgen. Die Branche hängt hier gemeinsam drin, wie damals vor gut drei Jahren, als in jenem März 2020 schon einmal Not erfinderisch machte. Erstaunlich, was plötzlich möglich wurde, weil Solidarität durch die Branche ging. Aber es wäre etwas plump, jetzt allein darauf zu verweisen. Nein, die Corona-Pandemie lehrte uns auch: Das überperfektionierte und über Jahrzehnten professionalisierte deutsche Fernsehen konnte plötzlich experimentieren.
Vielleicht lachen Sie jetzt, weil Sie sich an manches wirklich furchtbare Show-Experiment aus dem „Home Office“ erinnern. Doch in Rekordzeit - binnen weniger Monate - wurden in der Not ganz neue Formen entwickelt: Im TV-Journalismus wurde die Schalte per Video-Call endgültig zum akzeptierten Mittel. um Kosten und Umwelt zu schonen, in der Unterhaltung entstand ein Format wie „Noch nicht Schicht“ bei 3sat, welches Sebastian Pufpaff nicht nur Kritikerlob und einen Grimme Preis einbrachte, sondern zweifelsohne seine Bewerbung für den Aufstieg zu „TV Total“ war. Und in der Fiction? Da lernte Deutschland die Instant Fiction - und zwar instantly. Jene Form kurzer fiktionaler Erzählung, die in den Mediatheken bis heute en vogue ist, weil sie die Hürden senkt, um Geschichten von noch größerer Bandbreite zu erzählen.
Mit Limitierungen arbeiten, kann kreative Prozesse freisetzen. Aber dafür muss man sich eben erst einmal eingestehen, dass diese Limitierungen existieren. Was nützt das öffentliche Bekenntnis von Sendergruppen aus Unterföhring wie Köln, dass die Investitionshöhe in Programm ja unverändert bleibe, wenn sich das für die Kreativen oder Produzenten nicht so anfühlt. Mancher sagt sogar, es wirke wie Hohn, wenn Sender dem Publikum den Eindruck von Normalität vermitteln und dann aber Einsparungen über Druck auf die Produktionswirtschaft reinholen wollen.
Einer der wenigen, der sich schon ehrlich gemacht hat, ist Daniel Rosemann. Der Senderchef von ProSieben und Sat.1 erklärte schon im Sommer 2022 mit Blick auf die verlagerte Mediennutzung, dass er bei seinen Sendern abgesehen vom „Frühstücksfernsehen“ in Sat.1 keine Gelder mehr für neue Produktionen vor 16 Uhr investieren werde, um Budgets zu fokussieren. Das kann man ernüchternd nennen - oder ehrlich. Mit Kostensteigerungen pro Sendeminute und noch nicht eingetretener Erholung auf der Einnahmen-Seite braucht es eine noch intensivere Fokussierung - und vielleicht für manche Sendezeiten neue Antworten.
Fernsehen neu denken
Neu im Sinne von Genre, Machart, Refinanzierung. Teleshopping, Gewinnspiele, Interaktion, neulich mal bei RTLzwei der leider furchtbar umgesetzte Versuch der Immobilienvermittlung via TV. Niemand will die skrupellose Abzocke später Call-In-Zeiten zurück, aber der Grundgedanke, gewisse Sendestrecken anderweitig zu kapitalisieren, war im Grundsatz revolutionär. Kleinere Sender wie Tele 5 mussten schon vor Jahren ihr Geld auf die wichtigsten Stunden pro Tag konzentrieren, machten daraus keinen Hehl, sondern aus der Not eine Tugend, indem aus besonders schlechten Filme ein Kultprogramm wie "SchleFaZ" entstand.
Sender sind Absender; sind Marken. In Köln positioniert Inga Leschek RTL gerade wieder als RTL und in Unterföhring wird ProSieben dank erfolgreicher Primetime-Programme als gute Marke wahrgenommen, egal was da eigentlich in der Daytime läuft. Lineares Fernsehen ist nicht mehr konkurrenzloser Grundversorger, der nach dem Mittagessen in allen Kinderzimmern und abends wie selbstverständlich im Wohnzimmer läuft. Der Wettbewerb ist intensiver, x-fach vielfältiger und die Assoziation einer Sendermarke mit einer Handvoll starker Primetime-Programme heute schon ein Erfolg. Nicht ohne Grund bewerten wir den DWDL-Frischeindex immer schon nur aufgrund des Programmangebots zur meistgenutzten Tageszeit.
In die wird auch weiter investiert, aber der Mittelbau fällt eben weg oder braucht neue Ideen, nicht für einzelne 30-minütige Slots, über die man sich früher Gedanken gemacht hat - sondern ganze Programmstrecken. Je nachdem wie lange die angespannte Situation des Werbemarktes anhält, wird aus der Chance neu zu denken eine Notwendigkeit. Dafür müsste man aber aufhören sich zu zieren. Neben erfolgreichen Programm-Leuchttürmen wie wir sie kennen, wird sich lineares Fernsehen also auf Strecke neu erfinden müssen, wenn es nicht gerade beitragsfinanziert daher kommt. Vertrauen wir dabei auf Kreativität und lassen Experimente zu. Wie vor gut drei Jahren schon einmal.
Hilfe aus Hollywood, direkt und indirekt
Und dabei kann uns sogar helfen, dass Hollywood gerade ratlos wirkt. Ratlos einerseits bei der Frage, welche Geschäftsmodelle in Zukunft im Fokus stehen sollen. Aber auch ratlos, weil der Doppelstreik von Autorinnen und Autoren sowie Schauspielerinnen und Schauspieler mit jeder weiteren Woche, jedem weiteren Monat, Chancen für andere Märkte weltweit aufmacht. Denn wenn ab diesem Herbst zuerst im US-Fernsehen und bei Streamingdiensten, dann ab Anfang 2024 auch im Kino vorerst keine neue Ware verfügbar ist, werden Anbieter ihr Programm bzw. ihren Service mit alternativen Programmen füllen müssen.
Was Hollywood lähmt, kann bei uns den Motor anspringen lassen, wenn sich die Streiks drüben bis in den Herbst ziehen. Als „Streikbrecher“ muss sich bei uns übrigens niemand fühlen. Reflexartige Solidarität mit Kolleginnen und Kollegen in den USA ist verständlich und doch kämpfen Standorte im globalen Wettbewerb immer schon mit allen Mitteln - und von deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern, die Rollen abgelehnt hätten, nur weil die Produktion aus Kostengründen in Osteuropa gedreht wird, hört man jetzt selten. Also kann und darf der Doppelstreik in den USA genutzt werden. Wir können es uns auch nicht leisten, es nicht zu tun.
Einerseits könnten bereits fertige Produktionen nun neue Abnehmer finden, andererseits aber auch kommende Produktionen in Europa profitieren. Schon jetzt ist das Interesse von US-Playern an Koproduktionen mit europäischen Partnern gestiegen und auch wenn das natürlich nicht dauerhaft bleiben wird, so könnte die Finanzspritze von US-Partnern in der Fiktion ein Teil der nötigen Starthilfe sein, um - in diesem Fall bei fiktionalen Projekten - wieder mit mehr Zuversicht ins Jahr 2024 zu gehen. Nehmen wir jede Perspektive, die sich bietet. Machen uns ehrlich. Und packen es an.