Mit der neuen Serie "Die nettesten Menschen der Welt" erfährt die ARD gleich auf mehreren Ebenen ihr erstes Mal. Es ist für den Senderverbund nicht nur die erste Anthologie-Serie überhaupt, sondern sogar auch die erste Mystery-Serie. So wird es jedenfalls kommuniziert. Dennoch fehlt es nicht an prominenten Vorbildern. Die Serie sei eine Verbeugung vor Anthologie-Serien wie "Black Mirror" oder auch "Twilight Zone" lassen die beiden Köpfe hinter der Serie, Alexander Adolph (Regie, Autor, Koproduzent) und Eva Wehrum (Autorin, Koproduzent) wissen. Studio Zentral hat die Serie in Koproduktion mit Ungeheuer UG sowie NDR, ARD Degeto und BR für die ARD umgesetzt.
Die Latte hängt selbst gesetzt also schon einmal ziemlich hoch. Und um es gleich vorweg zu nehmen: An ein Format wie "Black Mirror" kommt "Die nettesten Menschen der Welt" nicht heran. Ein direkter Vergleich wäre aber auch unfair, das Productionvalue im Falle der ARD-Serie ist erkennbar niedriger und damit sind natürlich auch die Möglichkeiten begrenzt. Das erkennt man vielleicht am besten daran, dass ein Computerspiel in einer Folge Realität wird - und das sieht dann ein wenig so aus, als hätten die Kreativen zuvor einen Karnevalsladen in Köln ausgeräumt.
Inhaltlich weiß die Mystery-Serie dagegen schon mehr zu überzeugen. Wie bei Serien dieser Art üblich, bleibt vieles für eine Zeit lang im Dunkeln und am Ende ist meistens alles ganz anders, als man sich das zu Beginn ausgemalt hatte. Da wäre etwa das Mädchen Lill, das aufgrund einer Krankheit nicht das Haus verlassen darf - das aber plötzlich doch tun soll, weil ihr Vater zu Hause eine Gefahr sieht. Oder auch der immer brave Student Marten, der seine dunklen Gefühle unterdrückt und damit ein ziemliches Chaos heraufbeschwört.
Fantasie ist gut, bis zu einem gewissen Punkt
In einer anderen Folge gerät ein Bewerbungsgespräch so sehr außer Kontrolle, dass zwei Frauen am Ende mit einer Schrotflinte bedroht werden. Oft ist dabei nichts so, wie es zunächst scheint. Schade nur, dass man sich nicht komplett der Anthologie-Idee hingegeben hat. Von nur sechs rund 20-minütigen Folgen hängen zwei Mal zwei Folgen miteinander zusammen. Erzähltechnisch macht das durchaus Sinn, aber die Erwartungen der Zuschauerinnen und Zuschauer sind vielleicht andere, wenn sie explizit eine Anthologie-Serie mit nur sechs Folgen sehen.
Im Mittelpunkt aller Folgen steht, mal mehr oder weniger subtil, das Thema Fantasie - und was man damit erreichen kann. Das ist in einem Fall besonders wertvoll, um sich ein Stück Freiheit zu erkämpfen. Kann aber auch nach hinten losgehen, wenn man zu viel davon hat und sich plötzlich in seine Fantasie hineinsteigert. Oder ist am Ende doch alles ein einziger Fall? Im wahrsten Sinne des Wortes sind alle Charaktere auf ihre eigene Art und Weise: die nettesten Menschen der Welt. Sie wollen oft nur das Beste, das geht aber meist nach hinten los. Und macht sie das nun zu bösen Menschen? Auch hier lässt die Serie Raum zum Nachdenken.
Durch die Bank weg richtig stark sind die Schauspielerinnen und Schauspieler. Das fängt bei der jungen Lill, gespielt von Hannah Schiller an. Und reicht bis hin zu einem alteingesessenen Schauspieler wie Axel Milberg, der als Vater Fritz seinen Sohn auf die Erfolgsspur bringen will und dabei selbst nicht merkt, dass die von ihm gezeigten Vorbilder eigentlich gar keine sind. Überhaupt wartet die vergleichsweise kleine Mystery-Serie mit bekanntem Personal vor der Kamera auf. Da wären zum Beispiel auch noch Liam Mockridge, Lena Klenke ("How to Sell Drugs Online (Fast)"), Silke Bodenbender ("Wir wären andere Menschen", "Eine folgenschwere Affäre"), Fabian Hinrichs ("Tatort", "Sophie Scholl – Die letzten Tage") und Jörg Schüttauf ("Tatort"), die tragende Rollen in der Serie einnehmen.
Für ARD-Verhältnisse gewagt
Und auch drumherum gibt es bei "Die nettesten Menschen der Welt" einiges zu erzählen. Hannah Schiller, die die kreative Lill verkörpert, hat alle Bilder in der Serie selbst gezeichnet - auch die Episoden-Titel sowie die Bilder im Abspann stammen von ihr. Das zeichnerische Talent der Schauspielerin wurde am Set zufällig entdeckt. Der Titelsong stammt außerdem vom Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow, der auch in einer Folge der Serie einen Cameo-Auftritt hat.
Für ARD-Verhältnisse, das muss man mal ganz klar so sagen, ist "Die nettesten Menschen der Welt" sicher ein gewagtes Projekt. Vermutlich auch deshalb zeigt man die sechs Folgen linear erst ab kurz nach Mitternacht - das alte TV-Publikum soll bitte nicht überfordert werden, um 20:15 Uhr vertraut man für die große Masse lieber auf eine "Tatort"-Wiederholung. Für Anthologie-Kenner bietet "Die nettesten Menschen der Welt" zwar auch gute Unterhaltung, ist aber bei weitem nicht so revolutionär. Als Verbeugung vor "Black Mirror" oder "Twilight Zone" mag die ARD-Serie funktionieren, auf Augenhöhe ist sie aber nicht. Daher sollten vor allem die Macherinnen und Macher entsprechende Vergleiche lieber nicht ziehen.
Alle Folgen von "Die nettesten Menschen der Welt" stehen ab sofort in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Die sechs Episoden werden in der Nacht von Sonntag (23. Juli) auf Montag ab Mitternacht auch im Ersten gezeigt.