Wenn geschichtsbewusste Fernsehsender wie so oft der Vergangenheit ihrer nationalen Einflusszone huldigen, gibt es gemeinhin drei Sorten Regisseure. Der eine – sagen wir: Roland Suso Richter – ersinnt eine Frau und zwei Männer, rührt sie unter historisch verbürgtes Personal und bevölkert damit ein streng chronologisches Heldenepos. Der andere – sagen wir: Jo Baier – nimmt historisch verbürgtes Personal, rührt es unter ausgedachte Figuren, bevölkert damit ein, genau: streng chronologisches Heldenepos. Und dann wäre da noch Lars Jessen.
Wann immer sich der Filmemacher aus Kiel seiner regionalen Einflusszone widmet, geht es zwar auf merkwürdige Art realistisch zu. Von Jennifer („Sehnsucht nach was Besseres“) über Jürgen („Heute wird gelebt“) bis Fraktus („Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“) jedoch bleiben die Figuren bei aller Wahrhaftigkeit reine Fantasie. Kein Wunder, dass Jessen da auch historisch verbürgtes Personal bis zur Karikatur übertreibt und zugleich glaubhafter macht als die Wirklichkeit.
Ihre Namen: Holger Hübner, Thomas Jensen, Uwe Trede, Gösy Göser. Wer diesem Quartett holsteinischer Sturköppe nämlich in ihrer RTL-Version dabei zusieht, wie es ein Holsteiner Kuhdorf zum Mittelpunkt des Heavy Metal macht, dürfte zweifeln, dass solche Knalltüten tatsächlich existieren. Aber sie tun es. Oder auch nicht. Und damit willkommen in Lars Jessens Realsatire „Legend of Wacken“. Es wird sechs Teile lang unglaublich. Und das hat 6.000 Gründe.
Der Wichtigste: das Drehbuch vom Writers Room um Ingo Haeb („Fraktus“), dem Regisseur Jessen und sein Co Jonas Grosch eine Überdosis magischen Realismus verpassen, als läge Wacken westlich von Hogwarts. Es beginnt schon am Anfang: Holger Hübner – authentisch wie irre verkörpert von Sammy Scheuritzel – rast Mitte 1990 im Opel Kadett besoffen auf eine Kuh zu, hebt kurz vorm Zusammenprall ab und landet 32 Jahre älter auf dem legendären Hardrock-Event, wo ihn 85.000 Metal-Fans frenetisch feiern, und zwar echte.
Jessen und Grosch nehmen sich die Freiheit, ihre fiktiven Festivalgründer leibhaftig durchs vollbesetzte Originalgelände zu schicken, auf dass Wahn und Wirklichkeit beispiellos verschmelzen. Kurz darauf nämlich landet der heutige Hübner – authentisch wie irre verkörpert von Namensvetter Charly – im Koma, woraus ihn sein Partner Jensen zu holen versucht. Denn: ohne Holger läuft seit der Premiere kurz vorm Opel-Abflug nix in Wacken.
Und wie der Weg dorthin geschildert wird, das ist die Startsensation einer sagenhaften Serie, mit der sich RTL+ endgültig aus dem Netflix-Schatten löst. Das Videoportal erzählt seine „Legend of Wacken“ nicht als streng chronologisches Heldenepos, in dem zwei Provinzgewächse – unterbrochen, nicht aufgehalten von zwei, drei Rückschlägen – stetig aufwärts klettern; bei Jessen und Grosch sitzt einer am Klinikbett des anderen, um ihn mithilfe warmer Erinnerungen zu retten.
Der alte Metalhead Jensen (zwingend preiswürdig: Aurel Manthei) erzählt dem Wachkomapatienten also vom jungen Dorfpunk Thomas (Sebastian Jakob Doppelbauer), dessen ersehnte Landflucht ausfällt, weil er mit Bauer Trede (Detlev Buck), Kumpel Gösy (Béla Gábor Lenz) und Agent Holger anpackt, wovon alle abraten. Im Historytainment aus Vor- und Rückblenden zeigt uns die Serie somit, wie sich ein halbes Dutzend Verrückter gegen den Widerstand reaktionärer Dorfgranden aus seinem Käfig befreit.
Und das ist nicht nur eine humorvolle Milieustudie der wiedervereinten Republik voller Hasardeure und Bedenkenträger, Konservatismus und Aufbruch, Kohl (Gemüse) und Kohl (Kanzler), aber auch kapitalistischer Selbstausbeutung und Katharsis, durchweg klug ummantelt von Dutzenden brillanter Dialoge wie diesem:
Gösy (alt): Wo ist der gegen?
Thomas (alt): Der ist nirgendwo gegen, der hat was angepackt.
Gösy: Was packt der denn an?
Thomas: Weiß nicht, n’Kabel, n’Schalter, Strom, irgendwas.
Gösy: Hübner geht doch nicht an die Elektrik, der ist doch kein Elektriker!
Thomas: Weil ihm das nicht schnell genug ging und zack und bum, jetzt liegt er hier
Oder diesem Beleg orts- und menschenkundiger Sachkenntnis der Kreativen:
Thomas: Lass los, Priest spielt gleich!
Holger: Ich komm nicht mit.
Thomas: Wiedukommsnichmit?
Holger: Ich hör auf!
Thomas: Wieduhörsauf?
Holger: Ich steig aus!
Thomas: Wiedusteigsaus?
Holger: Wacken Open Air gibt’s nicht mehr für mich. Kannst ja allein weitermachen.
Thomas: Wa? Ich mein, dich hamse doch gebissen, sachma…
Aber mehr noch ist die Serie ein Fanal unbedingter Zielverfolgung, ein sachlich ausstaffiertes, lebensnah getextetes Durchhalteparolenkabarett auf Basis „wahrer Begebenheiten und echter Legenden“, wie der Vorspann verheißt. „Legend of Wacken“ verdient seinen Titel schon deshalb, weil es von echter Liebe handelt, diesem Chaos in Kopf, Bauch und Hose, das Himmelfahrtskommandos wie Festivals aufm Acker ermöglicht.
Für die norddeutsche Woodstock-Variante existiert daher kein besserer Kommandeur als Lars Jessen, der sein Gespür für provinzielle Traumtanzabende seit „Dorfpunks“ in Oden ans Unmögliche verwandelt und dafür Promis wie Charly Hübner kriegt, der selten redselige Rollen hat, aber noch nie einer mit weniger Text zu mehr Ausdruck verhalf. Dass die Magie um ihn herum nicht nur ins Absurde abgleitet, wenn der Motörhead Lemmy ihn leibhaftig ins Jenseits führen will – geschenkt. Wichtiger ist, wie Traum- und Wachphasen ineinandergreifen, ohne sich über irgendwen beider Welten lustig zu machen.
Surreal ist demnach nur ein Satz, 2. Teil, als Jensens Gitarrist Henner (Danilo Kamperides), die Pleite vor Augen, meint: „Alter, Wacken und Metal, das passt einfach nicht zusammen“. Wie das passt, zeigen Archivaufnahmen von 800 Gästen je 12 Mark (1990) bis 85.000 Gästen je 299 Euro (2022). Wie das passt, belegen aber auch Holger und Thomas höchstpersönlich. Im Abspann schwören die Originale, wie echt ihre zwei Kopien seien. Und wie viele ihrer Geschichten noch gar nicht erzählt. Das nehmen wir mal als Fortsetzungsversprechen.
"Legend of Wacken" steht ab dem 7. Juli bei RTL+ zum Streamen bereit, im Free-TV läuft die Serie am kommenden Mittwoch und Donnerstag um 20:15 Uhr bei Nitro