Die vielzitierte Streaming-Regel, man möge mit einem Feuerwerk loslegen und sich von da aus weiter steigern, um das Publikum bei der Stange zu halten, haben die Macher von "Sam – Ein Sachse" eindeutig beherzigt. In den ersten Minuten der Serie bekommen wir deren Titelhelden gleich in zwei actionreichen Szenen mit kurzatmiger Best-of-Anmutung zu sehen: Im Vorgriff auf 1992 – und damit die letzte der sieben Episoden – flieht Sam vor bewaffneten Rebellen im Kongo, ehe er gefangen genommen wird und auch nicht mit der Aussage, deutscher Staatsbürger zu sein, beeindrucken kann. Dann springt die Zeit zurück auf 1989 und nach Dresden, wo Sam schon wieder rennt. Diesmal dem Krankenwagen hinterher, der seine schwangere Freundin zur Entbindung fährt, ohne ihn mitzunehmen.
Dennoch fühlt sich "Sam – Ein Sachse" nicht so an wie die Durchschnittsware aus dem Drama-Standardbausatz. Es ist der konsequente Perspektivwechsel: Schwarz und ostdeutsch – diesen Blickwinkel auf unsere jüngere Geschichte, zumal aus Sicht einer alleinigen Hauptfigur, hat es so noch nicht gegeben, was an sich eine Leerstelle der deutschen Fiction anmahnt. Die Lebensgeschichte des echten Samuel Meffire, der heute als Autor und Trainer für Gefahrenlagen in Bonn lebt, macht es mit den Höhen und Tiefen ihrer Heldenreise zur dankbaren Aufgabe, das Versäumte nachzuholen.
Nach einer Kindheit und Jugend als Außenseiter, geprägt durch die Ermordung seines Vaters, geht Sam 1989 zur Bereitschaftspolizei der DDR, um Verantwortung für sein Land zu übernehmen. Dort ist er der erste und einzige Afrodeutsche. Doch der Staat, dessen Ordnung er verteidigen soll, löst sich schon wenige Monate später auf. Sam schlägt sich zunächst als Türsteher durch, nimmt dann aber die eskalierende rassistische Gewalt in den neuen Bundesländern zum Anlass, erneut eine Polizeilaufbahn einzuschlagen. Mit seinem Foto und dem Schriftzug "Ein Sachse." wird er gar zum Testimonial einer Diversity-Kampagne für Sachsen und zum beliebten Talkshowgast an der Seite des sächsischen Innenministers Heinz Eggert. Als er nach den Krawallen von Hoyerswerda beschließt, einen der Neonazi-Anführer auf eigene Faust zur Strecke zu bringen, ist das sein Aus bei der Polizei. Das private Sicherheitsunternehmen, das Sam in guter Absicht gründet, läuft hinten und vorne nicht; er lässt sich mit den Falschen ein, wird schließlich wegen Mordverdacht und Raubüberfällen gesucht. Nach einer abenteuerlichen Flucht in den Kongo wird er ausgeliefert und landet im deutschen Gefängnis.
Schrifttafeln erinnern vor jeder Episode daran, dass die Serie nicht die Absicht hat, Meffires Geschichte "in jeder Hinsicht authentisch" wiederzugeben. Im Gegenteil: Die Creator Jörg Winger, Tyron Ricketts und Chris Silber verdichten und überhöhen an jeder Ecke. Zum Glück tun sie das mit großem Gespür für die emotionale Wahrheit und getragen von den Stimmen einer für deutsche TV-Verhältnisse außergewöhnlich diversen Cast und Crew. Weil Sam nahezu permanent Diskrimierung, Verachtung und Demütigung erfährt, weil seine idealistische Hoffnung auf friedliches Miteinander und seine Suche nach einer ersatzweisen Vaterfigur früher oder später stets enttäuscht werden, ist der Grundton der Erzählung hart und schonungslos. Weil Hauptdarsteller Malick Bauer ("Wir", "Frau Jordan stellt gleich") mit der physischen Präsenz eines Schwergewichtsboxers und intensivem, berührendem Spiel, das eher Sein als Spiel ist, das Publikum in seinen Bann zu ziehen weiß, kann man kaum anders als die Welt durch seine Augen zu sehen. Und das tut weh. Vom unterschwelligen Alltagsrassismus in Form skeptischer Blicke bis zum heimtückischen Gewaltangriff reicht das Spektrum, das es, wie von den Serienmachern intendiert, nachzuempfinden gilt. Vom Absender Disney sollte man sich hier nicht täuschen lassen: "Sam – Ein Sachse" ist kein Stück lieblich, sondern meist schwere Kost.
Dabei begeht die Serie niemals den Fehler, Sam als blütenweiße Heldenfigur zu verkaufen, die zum unschuldigen Opfer der Umstände wird. Seine verzweifelten Ausraster, sein bisweilen unfairer Umgang mit Menschen, die an seiner Seite stehen, sein Versagen als Vater und sein Abrutschen in die Kriminalität bleiben uns nicht erspart. Das widersprüchliche Resultat ist eine Figurenführung, die im Zusammenwirken von Wingers und Silbers Büchern sowie Bauers Umsetzung schlicht als Meisterleistung gelten darf. Den Regisseurinnen Soleen Yusef und Sarah Blaßkiewitz wiederum ist es hoch anzurechnen, dass sie eine enorme Breite an Bildern und Stimmungen finden, die nicht nur die zwangsläufige Brutalität, sondern auch Liebe, Solidarität und Hoffnung transportieren. Fast schon spielerisch gehen sie den krassen Wendungen der Geschichte nach, indem sie passende filmische Anleihen bei Wendezeit-Drama, Polit-Thriller oder Action-Abenteuer nehmen, jedoch stets einen Weg finden, gängige Erwartungen zu brechen.
Dazu zählt etwa eine bewusste Modernisierung des vermittelten Lebensgefühls, das eher an einer jüngeren Zuschauergeneration von heute andocken will als akkurate Popkultur der erzählten Zeit zu rekonstruieren. Das gelingt besonders gut mit klug eingebauten Tracks deutscher Rap-Künstler wie Megaloh, Ansu oder Sugar MMFK. Kleine Unwuchten entstehen allenfalls da, wo sich ein paar Dialoge der frühen 90er allzu penetrant aus Diversity-&-Inclusion-Textbuch-Vokabular der 2020er speisen. Unterm Strich hätte sich Disney+ kaum einen stärkeren, relevanteren Erstaufschlag in der lokalen Fiction-Produktion wünschen können.
"Sam – Ein Sachse", auf Abruf bei Disney+