"Riesenscheiße". So könnte man den Fall Claas Relotius zusammenfassen. Einerseits für den "Spiegel" als am stärksten betroffenes Medium des Fälschers, aber auch für die Medienbranche insgesamt. Denn Claas Relotius hat dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen dem Journalismus misstrauisch gegenüberstehen. "Riesenscheiße" steht aber auch auf einem kleinen Karton von Juan Moreno, in dem er einige Unterlagen aufbewahrt hat. Moreno ist der Journalist, der Claas Relotius letztlich überführte - trotz vieler Widrigkeiten.
Einen Relotius-Text nach dem anderen nimmt sich Daniel Sager in dem Dokumentarfilm vor und zeigt, was erfunden ist und wie sich betroffene Personen teilweise dagegen wehrten. So wie eine Frau, die schon mehrmals bei der Vollstreckung von Todesstrafen persönlich vor Ort war. Sie las einen Text von Relotius, der nur so vor Fehlern strotzte. Sie suchte das Gespräch mit dem Journalisten und der ließ sich immer wieder neue Ausflüchte einfallen - an absichtliche Fälschungen wollte die Frau nicht denken. Oder an eine Reihe von Bewohnerinnen und Bewohnern der Kleinstadt Fergus Falls, die sich in einem Text von Relotius über ihre Stadt so überhaupt nicht wiederfanden.
In dem Film geht es immer wieder um Menschen, die schon früh Zweifel hatten an Relotius’ Arbeit. Dennoch kam der Journalist jahrelang mit seinen Fälschungen durch und gewann sogar etliche Preise. Dass diese im Zweifel wichtiger waren als journalistische Genauigkeit, ist eine Lehre aus der ganzen Relotius-Affäre - und hoffentlich eine Warnung an heutige Chefredaktionen und Herausgeberinnen und Herausgeber.
Unangenehme Fragen an den "Spiegel"
"Erfundene Wahrheit" ist aber auch vor allem dann immer ganz stark, wenn klar wird, dass das Handeln von Claas Relotius konkrete Auswirkungen auf andere Menschen hatte. So kommt unter anderem Dennis Betzholz zu Wort. Der Journalist arbeitet heute bei den "Kieler Nachrichten" und hatte vor Jahren die Chance auf eine Stelle beim "Spiegel". Beim Probearbeiten trat er gegen Relotius an - und verlor. "Es fühlte sich wie Betrug an", sagt Betzholz über den Moment, als er erfuhr, dass Relotius vor allem durch Fälschungen so weit gekommen war. Oder Asia Haidar, eine Journalistin, die einst zusammen mit Relotius beim "Spiegel" arbeitete und lange mit ihm an einer Geschichte über Syrien recherchierte. Plötzlich aber schloss Relotius sie von der Arbeit aus und gewann mit dem Text später sogar den Reporterpreis. Asia Haidar fühlte sich um ihren Erfolg beraubt. Und natürlich Juan Moreno, dessen Privatleben unter der ganzen Geschichte gelitten hatte, weil er damals mächtig unter Druck stand.
Vor allem für den "Spiegel" ist "Erfundene Wahrheit" eine wohl nur schwer auszuhaltende Doku, denn unweigerlich dürften bei den Zuschauerinnen und Zuschauern Fragen aufkommen. Wie konnten die Fälschungen so lange unentdeckt bleiben? Wieso hat die Aufklärung so lange gedauert, als erste Zweifel geäußert wurden? Und wieso hat man es auch in der Aufklärung versäumt, neutrale Personen an die entscheidenden Stellen zu setzen?
Insofern ist es ziemlich einzigartig, dass sich "Spiegel"-Köpfe vor die Kameras von Sky und Kinescope Film setzen und mit Daniel Sager über das ganze Thema sprechen. Allen voran natürlich der heutige Chefredakteur Steffen Klusmann (der erst nach dem Auffliegen des Skandals zum Magazin kam) oder auch die heutige Leiterin der Dokumentationsabteilung, Cordelia Freiwald. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Am Ende des Films werden auf zwei Seiten Namen von Personen eingeblendet, die nicht bereit waren, mit Sager über Relotius zu sprechen. Es sind vor allem aktuelle oder ehemalige "Spiegel"-Leute. Und es kommt wohl nicht von ungefähr, dass der Regisseur sagt, es habe sich so angefühlt, dass der "Spiegel" das Projekt blockieren würde.
Und was vor allem Klusmann in dem Film zu sagen hat, macht nicht unbedingt den Eindruck, als würde der "Spiegel" eine der härtesten Redaktionen samt Dokumentationsabteilung besitzen. "Und dann hat er geliefert", sagt er über Relotius. "Und zwar beständig, toll erzählte Geschichten, die so toll waren, dass man kaum glauben konnte, dass es das da draußen gibt". Man habe das alles so hingenommen und sich gefreut, dass es so gute Geschichten gewesen seien. Von einem "riesigen Systemversagen" spricht der "Spiegel"-Chefredakteur. Und ein bisschen wirkt es so, als würde sich Klusmann beklagen, wenn er sagt, es habe von Betroffenen keinen großen Aufschrei gegeben und so sei die Sache lange unbemerkt geblieben. Der "Spiegel"-Chefredakteur wird in dem Film gleich mehrfach eines Besseren belehrt, auch das macht ihn so sehenswert.
Auch der Dokufilm hat in Teilen etwas Filmisches
Die Dramaturgie in den Texten von Relotius hätten etwas Filmisches gehabt, sagt Klusmann im Laufe der Doku. Und auch hier setzt "Erfundene Wahrheit" an: Immer wieder werden Passagen aus den Texten von Claas Relotius vorgelesen, visualisiert durch entsprechende Aufnahmen, die an Spielfilme erinnern. Und plötzlich sieht man in dem Dokumentarfilm Tim Foley, ein Mitglied einer selbsternannten Bürgermiliz, durch das Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko schreiten, in der Hand ein Maschinengewehr. Es ist der Mann, den Relotius für einen seiner Texte besucht haben will, das aber gar nicht tat. Der Mann, der die Zweifel bei Juan Moreno endgültig überschäumen ließ.
Es ist auch der Mann, der letztlich den entscheidenden Beweis liefert für die Fälschungen des "Spiegel"-Journalisten. Juan Moreno, der mit Relotius an einer Geschichte gearbeitet hatte und schließlich sehr verwundert war über das Ergebnis, reiste mit einem befreundeten Fotografen auf eigene Faust zu eben diesem Foley und nahm ein Video auf, in dem der Milizionär zu Hause an seinem Esstisch versicherte, Relotius noch nie zuvor in seinem Leben gesehen zu haben. Das Video, mit dem Moreno zu seinem Chef beim "Spiegel" ging und dort abermals abblitzte, ist nun erstmals überhaupt zu sehen.
Insofern liefert "Erfundene Wahrheit" auch neue Erkenntnisse in dem ganzen Fall, der neben den gefälschten Hitler-Tagebüchern wohl einer der größten Niederschläge des Journalismus in Deutschland nach 1945 ist. Im Lichte der Tragweite wäre es auch schön gewesen, von anderen Personen Antworten auf Fragen zu erhalten. Zuallererst von Claas Relotius selbst. Oder von Klaus Brinkbäumer, dem langjährigen "Spiegel"-Chefredakteur. Er war zwar nicht mehr da, als die Affäre aufflog, dennoch arbeitete Claas Relotius lange unter ihm. Oder von dem Dokumentar, der damals für das Kontrollieren der Relotius-Texte zuständig war. Oder von anderen damals beim "Spiegel" verantwortlichen Personen, die die ganze Sache wohl auch deshalb nicht glauben konnten und wollten, weil sie Relotius lange gefördert hatten - und weil ihre persönlichen Karrieren an dem Fall hingen. Sie alle wollten Daniel Sager aber keine Antworten geben, das wird am Ende des Films noch einmal deutlich. Das ist schade, sieht man sich die Dimension des Falles an. Da kann man schon mal resigniert sein. So wie Juan Moreno, der die ganze Riesenscheiße aufgedeckt hat.
"Erfundene Wahrheit - Die Relotius-Affäre" ist am Freitag, den 24. März, um 20:15 Uhr bei Sky Documentaries zu sehen und steht auch zum Abruf bereit.