Als der Duden die menschheitsgeschichtlich uralte, sozialwissenschaftlich junge Fremdscham offiziell in unseren Wortschatz aufnahm, war Christian Ulmen daran nicht so ganz unbeteiligt. 2009 hatte sich das RTL-Publikum zwar schon fünfmal für C-Promis im Dschungel geschämt, während das parallel aufgeschlagene Facebook gerade Richtung digitale Stripshow unterwegs war. Der Durchbruch aber gelang dem Begriff wegen Knut oder Collin, Alexander und Ecke, Martina, Jürgen, Marcel und natürlich Uwe, Paraderolle vom deutschen „Meister der Scham“, wie „Die Zeit“ Christian Ulmen mal ehrfurchtsvoll taufte.
Das einfältige Pudelmützengeschöpf der brillanten Reality-Soap „Mein neuer Freund“ hatte sich bei ProSieben nämlich nicht nur persönlich zum Horst gemacht, sondern alle in dessen Dunstkreis gleich mit – und kennzeichnete damit schon 2005, was Uwes Alter Ego zwölf Jahre später zur Quintessenz deutschen TV-Humors gerinnen ließ. Christian Ulmens Lebensthema, seinen Fetisch, fast schon eine Sucht, die er als einer von zwei „jerks.“ zur Perfektion treiben konnte: Fremdscham, Eigenscham, egal – Hauptsache lächerlich.
Der Potsdamer Tatort-Kommissar und Komiker mit Kind und Kegel seiner Frau Collien Ulmen-Fernandes spielt darin den Potsdamer Tatort-Kommissar und Komiker mit Kind und Kegel seiner Frau Collien Ulmen-Fernandes als schlechtere Hälfte einer toxischen Männerfreundschaft zum Hamburger Tatort-Kommissar und Komiker Fahri Yardim, dessen Fiktion dem Original zwar etwas weniger ähnelt als Ulmen der seinen. Zusammen aber sind sie das glaubwürdigste Paar wohlstandsverwahrloster Cis-Egoisten seit (dem weniger wohlständigen, dafür verwahrlosteren) Ekel Alfred.
Zweiundvierzigmal haben Schreibkräfte wie Murmel Clausen oder Johannes Boss für Ulmen und Yardim alias Christian und Fahri nach dem Vorbild der dänischen Serie „Klovn“ sehr realistische, aber schwer erträgliche Improvisationen maskuliner Selbstherrlichkeit vorgefertigt. Wobei jede der 20 bis 30 Minuten eigentlich von Sekunde 1 an für Abschaltimpulse gesorgt hätte – wäre das Fremdschamrepertoire von Verlegenheit über Kränkung bis hin zur formvollendeten Schmach nicht so tadellos konstruiert. Reihenweise Comedypreise waren da das Mindeste an Ehre für zwei ehrlose Selbstvermarkter und haben somit locker vier Staffeln gerechtfertigt.
Diese Woche nun startet die fünfte, und wenn es sich die „jerks“ zum Auftakt zehn neuer Folgen mit Fridays for Future verscherzen, in der zweiten mit Riccardo Simonetti, in der vierten mit ihrer Selbsthilfegruppe, in jeder mit Kollegen, Freunden, Blutsverwandten (m/w/d) und bei einer Zeitreise zwischendurch sogar mit denen der gemeinsamen Schulzeit, tun die Jerks im Grunde dasselbe wie zweiundvierzigmal zuvor: sie lindern ihre Profilneurosen auf Kosten anderer. Dass viele Pointen mindestens einmal „Anus“ oder „Rosette“ enthalten? Egal!
Schließlich ist die Serie trotz Würgereizes beim Zusehen auch deshalb so bekömmlich, weil sie männliche Marotten der Generation X für vorige und folgende Alterskohorten auf Täterkosten greifbar macht, ohne didaktisch zu wirken. Doch wer die Sollbruchstellen normierter Sitten und Gebräuche zügellos überdehnt wie Headwriter, Regisseur, Hauptdarsteller und Produzent Ulmen, verfällt offenbar in eine Steigerungslogik, bei der er im Kreislauf endloser Eskalationsspiralen mit Wildfremden onaniert oder Nazis vögelt. Und das ist weder glaubhaft noch lustig, sondern ebenso albern, als spielten die Szenen auf Mond oder Mount Everest.
Jetzt ist auch mal gut
Es ist wie bei Film- und Fernsehzombies: Deren Zivilisationskritik vom Menschen als des Menschen Wolf haben nach 82. Staffeln „Walking Dead“ plus Spin-offs und Kopien auch die letzten unserer Art verstanden. Seit Jerry Seinfeld sein gleichnamiges Alter Ego 1989 zur Sitcom-Figur erkor, was sein Partner Larry David in der HBO-Mockumentary „Curb your Enthusiasm“ elf Jahre später fortführte, machen von „Louie“ C.K. über Abby McEnany („Work in Progress“) und Mae Martin („Feel Good“) bis Bastian „Pastewka“ so viele Comedians ihre Klarnamen zum Gespött der Leute, dass auch deren Botschaft längst begriffen wurde: Ihr seid zwar Stars, dazu noch lustige, aber so fehlbar wie wir und steht sogar dazu.
Nagende Zweifel am Wahrheitsgehalt solcher Mutmaßungen kann zwar auch der Vorspann, „jerks.“ beruhe auf „wahren Begebenheiten“, nicht zerstreuen. Aber ob diese „Trottel“ nun 5 oder 95 Prozent ihrer Pipikacka-, Fick- und Versagenswitze tatsächlich erlebt haben, ist langsam eh egal. Ihr Steigerungslogik ist schlichtweg auserzählt. So verneigen wir uns noch zehnmal vor Esprit, Courage, Begabung und Spielfreude diverser Klarnamen-Charaktere aller Popularitätsstufen, wie sie sich im Dienst des Entertainments angreifbar gemacht oder die Angreifbarkeit anderer dechiffriert haben.
Denn selten wurde die Toxizität männlicher Emanzipationsverweigerung so qualvoll und zugleich heiter verabreicht. Aber jetzt ist eben auch mal gut. Und Fremdschamfans aufgepasst: da die fiktionale Joyn-Version asozialer Medien reichlich Anerkennung generiert, wird schon bald die nächste Sau der reflexiven Königsdisziplin Selbstironie durchs Fernsehdorf getrieben. Dieter Nuhr zum Beispiel könnte sich seine Jugend- und Frauenverachtung mit etwas Woke-Washing schönreflektieren. Die wahren Meister der Scham aber verabschieden sich in die Wirklichkeit. Hoffen wir mal, dass sie dort gar nicht so sind…
Die fünfte Staffel von "Jerks" läuft seit dieser Woche im kostenpflichtigen Abo bei Joyn Plus+