Birken sind mystische Wesen. Seit jeher beflügeln sie unsere Fantasie, weshalb wir ihnen von Fruchtbarkeit übers Spukinventar bis zur Frühlingsbotin so viel Bedeutung andichten, dass sie fast niemanden völlig kalt lassen. Wenn zwei Jungs im fahlen Licht eines wolkenverhangenen Tages durchs Unterholz stromern, bedarf es da weder Genre noch Titel der zugehörigen Serie, um zu wissen, was gleich passiert: Sie entdecken eine Frauenleiche, anmutig zum Engel dekoriert, das Weiß der Rinde ringsum im harmonischen Kontrast zum Kadaver.
Wer den Autor kennt, ahnte aber wohl schon vor Beginn der Paramount+-Verfilmung „Die Chemie des Todes“, dass es im Birkenwald bald eklig werden dürfte: Ihr Vorlagengeber Simon Beckett ist schließlich Meister des ästhetischen Horrors. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis sein Erfüllungsgehilfe millionenfach verkaufter Kriminalromane zum Streamingstar wird: David Hunter, forensischer Anthropologe aus London, den ein Schicksalsschlag ins ostenglisch Norfolk getrieben hat, wo er als Landarzt nun sein Trauma bewältigt.
Hier also finden die Kinder ein Mordopfer, das zu verwest ist für konventionelle Spurensicherung. Inspector McKenzy (Samuel Anderson) möchte den überqualifizierten Mediziner folglich zur Rückkehr ins Fachgebiet bewegen, wogegen er sich aufgrund unverarbeiteter Erlebnisse zuvor verbissen wehrt. Denn die, erfahren wir in ständigen Flashbacks, führen ihn zwanghaft zurück zu jenem Strand, an dem er Frau und Kind verloren hat. Damit das Format nicht nur einmal 90, sondern sechsmal 45 Minuten trägt, lässt sich die Koryphäe auf dem Gebiet der kriminalistischen Autopsie zur Hilfe überreden und fördert Fürchterliches zutage.
Mix aus "CSI" und "Der Pass"
Im verschlafenen Manham treibt ein Ritualmörder sein Unwesen, weshalb schon bald die nächste Frau verschwindet und übel zugerichtet wieder auftaucht. Und gerade, als sich der seelenwunde Leichenleser – fiebrig verkörpert von Harry Treadaway („Penny Dreadful“) – in Dorflehrerin Jenny Krause (Jeanne Goursaud) verliebt, landet auch sie in den Fängen des Killers und macht das Ganze zu Hunters persönlicher Sache. Nach Sukey Venables Fishers Drehbüchern macht Richard R. Clark aus Becketts Reihe demnach eine Mischung aus „CSI“ und „Der Pass“.
Als spielte der Spreewaldkrimi in Broadchurch, paart der Mystery-erfahrene Regisseur („Doctor Who“) forensische Hightech mit viel Gothic zur psychosozialen Lowtech einer habituell konservativen Provinz, die leicht an „Spreewaldkrimis“ erinnert und von Tim Sedell differenziert eingefangen wird: klinisch präzise, wo seine Kamera Tote seziert, abgründig verrätselt, wenn sie zu Hunters Obduktionsprosa durch nebulöse Landschaften kriecht. Ein Mensch, so startet Beckett die Buchreihe auf Seite 7, so spricht – nein: flüstert ihre Hauptfigur in deren Verfilmung, „beginnt fünf Minuten nach dem Tod zu verwesen“.
Sein Körper, fährt Hunter fort, „macht nun die letzte Metamorphose durch. Er beginnt sich selbst zu verdauen, die Zellen lösen sich von innen nach außen auf, das Gewebe wird erst flüssig, dann gasförmig. Kaum ist das Leben aus dem Körper gewichen, wird er zum gigantischen Festschmaus für andere Organismen“ – aus dem Off der Serie klingt forensische Anthropologie, als sei es Poesie. Und die ist bei allem Voyeurismus von einer Tiefe, die ihre Intensität anders als unter Fernseh-Forensikern üblich nicht bei den Toten, sondern Lebenden sucht und sich dabei alle Zeit der Welt lässt.
Umso interessanter, dass Paramount+ sein Serienhighlight der Presse in dieser Woche mit Autor und Hauptdarstellern an Bord des ICE von Hamburg nach Berlin vorführte. Da die Bahn ein paar der Formate bis Ende März aufs eigene Portal stellt, klingt das zwar schlüssig und sorgt schon dank der Anwesenheit des britischen Literaturstars für leichten Aufruhr an Gleis 12; die Geschwindigkeit allerdings passt nicht so recht zur Handlung in Zeitlupe, einerseits. Denn andererseits: Mit Beckett bei Tempo 220 durch Brandenburg zu rasen, verstärkt den Kontrast seiner dramaturgischen Kriechfahrt zum Standard genretypischer Effekthascherei.
Gäbe es nur halb so viele Ritualmörder wie aktuell am Bildschirm, die Welt hätte weitaus mehr Probleme mit überfüllten Hochsicherheitsgefängnissen als Überbevölkerung. Kurz vor Spandau aber erklärt der Bestsellerfabrikant höchstpersönlich, warum sein Roman die Kriminalstatistik, in der Serienkiller etwa so selten sind wie Königsmörder, sprengt: „Als Schriftsteller bin ich immer auf der Suche nach der Fragilität dessen, was wir Normalität nennen.“ Und die kittet er, indem seine Figuren „den Lesern zugleich fremd und nahe, Freunde wie Feinde sind“.
Diesen Widerspruch besetzt Paramounts internationale Koproduktion auch mit Personal wie Hardy Krüger jr., ab Folge 4 ein Fischer in den Highlands, wo Hunter nach dem ersten Einsatz – genau: furchtbar entstellte Leichen vorfindet. Zum Glück aber nutzen Nadcon Film und Cuba Pictures nur Belegschaft aus Deutschland, keine Klischees. „Abseits meiner Schublade besetzt zu werden“, staunt der Sohn des weltbekannteren Hardy im ICE über sein schottisches Raubein, „das gibt es leider nur im angelsächsischen Raum“.
Wann immer sich hier jemand verdächtig macht, tut er es nicht, um verdächtig zu wirken, sondern weil Verdächtige manchmal verdächtig agieren. Und wo Hunters Leid im „Polizeiruf“ oft Behauptung bliebe, macht es Treadaways verhuschte Cordhosenhaftigkeit physisch spürbar. Was hingegen stört: ein rückständiges Frauenbild. Opfer, Engel, Bitch oder Beiwerk: während die Hamburgerin Goursaud („Barbaren“) als künftiges Rettungsobjekt notorisch im Tanktop oder Blümchenkleid durch Norfolk tänzelt, dürfen selbst toxischste Hinterwäldler abseits ihrer Serienfunktion Persönlichkeit entwickeln – und „Chemie des Todes“ zur fesselnden Männermilieustudie am Birkenwaldrand machen.
"Die Chemie des Todes", verfügbar bei Paramount+.