Dreiecke haben trotz gerader Linien oft verschlungene Bedeutungen – zumindest für Christen und Freimaurer, Hindus und Ägypter oder diese zwei trigonometrischen Winkeldeuter: Jantje Friese und Baran bo Odar, die ihre Mystery-Formate mit obsessiver Innbrunst trigonal dekorieren. In „Dark“ zum Beispiel deutet der Regisseur das Rätsel paralleler Epochen nach Drehbüchern seiner Frau konsequent gleichschenklig. Und als ein Junge im titelgebenden Jahr ihrer neuen Netflix-Serie „1899“ auftritt, hat auch er etwas Geometrisches dabei: eine Miniaturpyramide, pechschwarz und voller Zeichen.
Wobei die Mischung aus „Titanic“ und „Alien“ auch zuvor schon gerne im Nebel stochert. Die erste von acht Episoden beginnt schließlich wie üblich bei Friese/Odar im Dunkel surrealer Naturszenarien und steigt sodann ins Untergeschoss einer Irrenanstalt, wo jene Frau Wahnvorstellungen hat, die sich kurz darauf auf der „Kerberos“ wiederfindet – einem Dampfer mit vier Schloten und 1000 Auswanderern, wo ebenso alles grau in grau ist: Mensch, Maschine, Mobiliar, also auch Maura Franklin.
Die Umnachtete von eben ist eine der gutbetuchten Passagiere auf luxuriöser Fahrt von Europa nach New York, während sich drei Decks tiefer Elendsflüchtlinge stapeln, die nur einmal Kontakt zur komfortablen Welt darüber aufnehmen: als der Däne Krester (Lucas Lynggaard Tønnesen) in den prächtigen Speisesaal läuft und nach einem Doktor ruft. Doch statt ärztlicher Hilfe kriegt er die Härte der Matrosen zu spüren. Nur Maura (Emily Beecham), als Frau dieser misogynen Epoche studierte, nicht approbierte Ärztin, folgt ihm abwärts und rettet das Baby einer Hochschwangeren.
Dank darf sie dafür nicht erwarten – weder in der 3. Klasse, die Bessergestellten per se misstraut, noch in der 1. Klasse, die zwar nicht mit Hunger und Enge, aber Kabalen und Liebe kämpft. Fürs Serienprotokoll ist daher nur zweierlei handlungsrelevant: die Stände sind auch hier so separiert, dass ihre Mauern selbst dem medizinischen Notfall trotzen. Unabhängig von Rang oder Titeln aber tragen arm und reich, oben und unten, Adel und Pöbel auf 40.000 Tonnen Stahl Geheimnisse mit sich herum, die mit jeder Minute an Bord deutlicher zutage treten.
Der spanische Padre Ramiro (José Pimentão) oder die japanische Geisha Yi (Isabella Wie), der polnische Heizer Olek (Maciej Musiał) oder die einsame Französin Clémence (Mathilde Ollivier), der blinde Passagier Jérôme (Yann Gael) oder die allein reisende Ms. Wilson (Rosalie Craig) – als Funksignale der „Prometheus“ ankommen, die seit vier Monaten als verschollen gilt, und Kapitän Larsen (Andreas Pietschmann) zum Schwesterschiff abdrehen lässt, offenbaren sie alle nach und nach ihre wahren Gesichter.
So funktionieren Stoffe von Odar und Friese, seit „Dark“ vor fünf Jahren zur weltweit populärsten Netflix-Serie geriet und damit Streaming-Geschichte mit Nachahmungspotenzial schrieb. Kein Wort, keine Regung, kein noch so kleines Detail ihrer nebulösen Albträume ist ohne Handlungsnutzen. Ständig tauchen unvermittelt Leute auf und blicken zwielichtig drein. Ständig sind sie dabei entweder wortkarg oder poetisch. Ständig wälzt sich Ben Frosts elektronischer Soundtrack dazu durchs wolkenverhangene Meer an Deck eines lichtlosen Schiffes, auf dem niemand lacht, ja nicht mal lächelt.
Für diese Melodramatik ist „Effekthascherei“ noch untertrieben; es ist eine Treibjagd aller Gewerke und Darsteller auf zwanghaften Symbolismus, der nach kürzester Zeit so nervt, dass man zu sonnenklar.TV zappen möchte, um dieses Pathos mit Trivialität zu kontern. Wäre da nicht Frieses Kopfkarussell, das Odar mit jeder Minute zu beschleunigen versteht. Denn so aufdringlich die Schauspieler vor den LED-Wänden der neuartigen Green-Screen-Ersatztechnik „The Volume“ für ein deutsches Rekordbudget von 50 Millionen Euro um Gänsehaut betteln, so schwer fällt es, dem Unbehagen zu entrinnen.
Als Kapitän Larsen die menschenleere „Prometheus“ erreicht und eine Delegation weder Telegraf noch Leichen findet, aber den Jungen mit der Pyramide, als das vermoderte Geisterschiff seine Retter beim Abschleppmanöver erst in den Bann und dann dichten Nebel zieht, als Kompasse spinnen, Dreiecke wuchern, Käfer krabbeln und sich die dramaturgischen Taschenspielertricks somit eher potenzieren als vermehren, sickert das Gift der Beklommenheit in die Gehirne der Zuschauer.
Bei klarem Verstand müssten die sich infiltriert, ja missbraucht fühlen. Weil Odar den Modus sensorischer Überwältigung jedoch zu keiner Zeit auch nur sekundenweise abschaltet, wird das Publikum gewissermaßen kampfunfähig sediert. Wenn Nikolaus Summerers Kamera am Ende der zweiten Folge dann zum anschwellenden Opernrock von Deep Purples Child in Time auf die erste (aber nicht letzte) Leiche an Bord zoomt, bleibt es irgendwie schockgefrostet sitzen und wartet gefesselt ab, was noch so kommt.
Man könnte diese Art gelenkter Abwehrschwäche „Lost“-Syndrom nennen. Die Mutter horizontal erzählter Mystery-Serien war auf subtile Art originell, da ihre Rätselhaftigkeit allein in den Köpfen der Schiffbrüchigen stattzufinden schien. Aber nachdem die Insel mit jeder Folge mehr bizarre Wesen beherbergte, wich die anfängliche Ernüchterung bald der Neugier. Dass psychotische Fiktionen wie „Twin Peaks“ oder „Shining“ zeitloser fesseln, ändert deshalb nichts an der Sogwirkung aufdringlicher Epigonen wie „1899“.
Nur ein Tipp noch: unbedingt in der englischen Originalfassung sehen. Und zwar weniger, weil die Synchronisation des internationalen Casts misslungen wäre; das ist sie nicht… Aber ein wichtiger Spannungsschmierstoff besteht im babylonischen Sprachgewirr aus Skandinavisch (Unterdeck), Englisch (Maschinenraum), Deutsch (Brücke) und Französisch (Oberdeck), das Baran bo Odar untertiteln lässt. In übersetzter Form wird die Geheimniskrämerei um zwei Schiffe, die offenbar eins sind, dagegen unerträglich.
Alle Folgen der ersten Staffel von "1899" stehen bei Netflix zum Abruf bereit.