Wer zufällig Altgriechisch kann: Der antike Denker Aristoteles beschrieb seine Spezies schon vor 2300 Jahren als ζῷον πολιτικόν, also ein „Zoon Politikon“, das nach moderner Lesart „sozialgesellschaftliches Lebewesen“ bedeutet und aus Sicht einer Serie auf RTL+ über Vor- und Nachnamen verfügt: Jens Spahn. So hieß, Ältere erinnern sich, der Bundesgesundheitsminister, als Deutschland nur mit Katastrophen wie Corona, Rechtsruck, Klimawandel, Verschwörungsideologien oder Armin Laschet zu kämpfen hatte.
Mittlerweile sind Angriffskrieg, Inflation, Energiekrise hinzugekommen, was womöglich selbst Armin Laschets Westmünsterländer Alliiertem jener problemärmeren Tage ein wenig aus der Schusslinie genommen hätte. Doch wahrscheinlicher würde sich Jens Spahn, wäre die CDU noch immer wie immer stärkste Partei, weiterhin dort sonnen, wo er sich am wohlsten fühlt: im Rampenlicht. Wenn es einen Politiker in unserer politverdrossen politiksüchtigen Republik gibt, für die Aristoteles den tierischen Begriff prägte, ist es schließlich der konservativ-katholische Bankkaufmann mit der markanten Zahnlücke.
Das jedenfalls legt Aljoscha Pause – ansonsten eher mit Fußballdokumentationen wie „Inside Borussia Dortmund“ oder „Being Mario Götze“ befasst – in seiner Langzeitbeobachtung „Second Move Kills“ nahe. Gut fünf Jahre lang war der preisgekrönte Autor Jens Spahn dafür buchstäblich auf den Fersen. Rund 1850 Tage Kamerabegleitung auf Schritt und Tritt, die uns neun Teile lang viel übers Biotop eines politischen Alphatiers lehren, das sich zeitlebens als dessen Dschungelkönig versteht.
Schon an der bischöflichen Canisius-Schule seiner Heimatstadt Ahaus, berichten Wegbegleiter, war er zwar nicht cool, aber auch kein Streber, verließ das Gymnasium dennoch mit dem Notenschnitt 1,1 und hatte bereits 1999 ein Ziel vor Augen, das sogar im Abi-Buch steht: „Bundeskanzler, was sonst?!“ Jens Spahn, so lernen wir, war schon als Ministrant von politischem Ehrgeiz zerfressen. Ohne den, sagt der einstige „taz“-Reporter und jetzige „Welt“-Vize Robin Alexander, komme man in der Politik halt nicht weiter. Spahn allerdings, welch journalistischer Ritterschlag, „kombiniert ihn mit Risikobereitschaft“.
Deshalb verteidigt schon der junge Jens als einziger seiner Altersklasse in aller Öffentlichkeit Atommülltransporte durchs eigene Dorf und erntet einen Shitstorm, über den sich der große Spahn noch immer freut. Dieses – wie Alexanders Kollege Hajo Schumacher es nennt: „kalkulierte Rebellentum“ kennzeichnet den pragmatischen, Feinde bevorzugen: opportunistischen Streithammel bis heute. Im Wahlkampf trägt der Westfale bayerischen Janker (falls Edmund Stoiber kommt), schimpft übers Staatsversagen (in Angela Merkels Willkommenskultur), wettert zu jedem, absolut jedem Thema gegen den Islam und verkauft diesen Hass auch noch als homosexuelle Emanzipation.
Dafür bezieht er bei vielen der Talking Heads, die Aljoscha Pause zu Dutzenden vors Objektiv seiner Kameraleute Robert Schramm und Sebastian Uthoff kriegt, reichlich Dresche. „In der Sache gefährlich, in der Methodik populistisch“, klagt Annalena Baerbock. „Manches, was Herr Spahn sagt“, erinnert das liberale Urgestein Gerhart Baum, „ans Twittern von Herrn Trump“. Sein Hetzen, setzt die Publizistin Bettina Gaus obendrauf, sei „gefährlich“ bis „menschenverachtend“. So klingt es neunmal 65 Minuten, wenn Andersdenkende Jens Spahn beurteilen. Starker Tobak – den der Kritisierte im Anschluss an jeden dieser Vorwürfe genüsslich widerlegen, ja ins Lächerliche ziehen darf.
Als Interview-Technik heikel, bewirkt Aljoscha Pauses scheinbare Parteilichkeit allerdings das Gegenteil und entlarvt Spahns unbeirrbares Selbstbewusstsein als Ausdruck exzessiver Eitelkeit einer wirkungsfixierten Politikzoo-Sensation, die alle Handlungsfäden nicht nur in Händen hält, sondern eigenhändig knüpft – auch die unschmeichelhaften, fehleranfälligen, in Spahns Fall besonders gravierend: sexualisierten. Bereits nach 15 Minuten kommt sein Liebesleben zur Sprache und bleibt bis zur 90. der 9. Episode präsent. Dieser Fokus wirkt bisweilen wohlfeil. Aber ein homophiles Alphatier der homophoben Staatspartei einer homophoben Gesellschaft: das allein macht „Second Move Kills“ trotz Überlänge, Geigensalven oder arg viel Muskelaufbau mit Personal Trainer ähnlich gehaltvoll wie baugleiche Politikerporträts – „Kevin Kühnert und die SPD“ etwa von Katharina Schiele und Lucas Stratmann oder Torsten Körners Merkel-Resümee „Im Lauf der Zeit“
Wenn Aljoscha Pause, der seinen Grimme-Preis 2010 für ein Porträt schwuler Fußballer erhalten hat, von Castortransporten und Coronakrise über Migrations- oder Machtdebatten in Spahns Kindheit und retour reist, weder Immobilien- noch Maskendeal-Skandale auslässt und doch regelmäßig beim Ehemann eines ebenso intoleranten wie debattierfreudigen Salon-Reaktionärs landet, findet er schließlich stets den richtigen Tonfall, um das Unfassbare fassbar zu machen: einen Durchlauferhitzer im politischen Berlin, der beim politischen Aschermittwoch sein Weißbier ext und den Pranger der „heute-show“ nicht scheut. Der also austeilen, aber auch einstecken kann.
Schon deshalb haben weder Claudia Roth noch Armin Laschet, Annegret Kramp-Karrenbauer oder Kevin Kühnert, Mai Thi Nguyen-Kim und Max Giermann oder wie Aljoscha Pauses prominente Gesprächspartner auch alle heißen, keine Zweifel: die ewige Nachwuchshoffnung der Union wird seinen Weg ins Kanzleramt trotz verlorener Bundestagswahl 2021 fortsetzen. „Jetzt werden’se noch berühmt“, sagt es am Ende, als Spahn mit einem Arbeiter in Warnweste den Lift besteigt. Da schweigen beide sekundenlang – der eine süffisant lächelnd, der andere peinlich berührt, und dreimal darf man raten, wer was tut. Der Aufzug fährt jedenfalls nach oben. Das Politiktier Jens Spahn hat vermutlich auch das so gewollt.
"Second Move Kills" ist ab sofort bei RTL+ zum Abruf verfügbar.