Die seriöseste Entwicklung der vergangenen vier Jahrzehnte Film und Serie war: historische Authentizität. Als Monumental- oder Cowboy-, Mantel- und Degenfilme das Kino dominierten, kannte die fiktionale Vergangenheit weder Karies noch Gebrechen, geschweige denn ungeschminkte Frauen. Vergangenheit sah so makellos aus, wie sie das Publikum sehen wollte, und dieses Publikum will bis tief in unsere Gegenwart Vergangenheit ohne den Ballast einer Wirklichkeit, die kein Format aus grauer Vorzeit surrealer nachkoloriert hat als der eskapistischste Dreiteiler aller Wirtschaftswunderzeiten: Sisi.
Pardon: Elisabeth!
So nämlich möchte Deutschlands liebste Märchenprinzessin bei jeder Gelegenheit des Sechsteilers „Die Kaiserin“ genannt werden und macht damit klar: Romy Schneiders Verklärung der Monarchin zur süßen „Sissi“, 1955 noch mit bräunlichem Doppel-S geschrieben, ist endgültig Geschichte. Und was für eine! Während RTL+ die bayerische Habsburgerin erst vorigen Winter zur Serien-Sisi mit Sex’n’Dreck’n’Weltpolitik modernisiert hat, legt Netflix mit einem Biopic nach, das – tja, was eigentlich ist: hyperrealistische Fantasie, verträumte Tatsachenbehauptung, groteske Wahrhaftigkeit?
In jedem Fall handelt „Die Kaiserin“ von der filmreifen Genese eines aristokratischen Landeis zur faszinierendsten Frau ihrer männlich dominierten Zeit. Sie beginnt im Frühjahr 1854, als das renitente Königskind ihre Mutter (Jördis Triebel) zuhause in Possenhofen mit Unschicklichkeiten jeder Art zur Weißglut treibt. Wobei nicht nur die Tatsache, dass Elisabeth von der Deutsch-Türkin Devrim Lingnau gespielt wird, von der bewussten Entmystifizierung tradierter Heimatfilmmythen zeugt.
Wie in Ernst Marischkas Nachkriegstrilogie erzählt zwar auch Headautorin Katharina Eyssen, wie die Titelheldin der älteren Helene (Elisa Schlott) Österreichs Kaiser Franz-Josef (Philip Froissant) ausspannt und trotz aller Macht an Schwiegermutter Sophie (Melika Foroutan) nebst sittenstrengem Hofstaat zu zerbrechen droht. Was die Nachwuchsregisseure Katrin Gebbe („Tore tanzt“) und Florian Cossen („Deutschland 86“) jedoch darüber hinaus unterm globalen Originaltitel „The Empress“ aus der deutschsprachigen Realitätsfluchthilfe machen, ist schwer in Worte zu fassen. Versuchen wir’s trotzdem.
Mit ihrer unverhofften Hochzeit am Anfang des dritten Teils, zieht Elisabeth alias Sisi alias schönstes, aber auch traurigstes Staatsoberhaupt zwischen Rokoko und Historismus vom betulichen Starnberger See in den Menschenzoo Schönbrunn, wo ihr liberales Naturell – dem damaligen Geschlechterbild entsprechend – unter Dauerbeobachtung steht. Ob im Bad, beim Essen, unterwegs, daheim oder mit gläserner Kutsche auf dem Weg zur Trauung: Ärzte, Pfarrer, Volk und Adel sind bei jeder Verrichtung dabei – was noch entmündigender wird, als sich eine ihrer sechs Hofdamen, die revolutionäre Leontine (Almilia Bagriacik) aus der Gosse ins Schloss schmuggelt, um Elisabeth zu töten.
Aber im Gegensatz zum Gros der Protagonisten früherer Verfilmungen sind solche Figuren ähnlich frei erfunden wie diverse Handlungsstränge – jener zum Beispiel, Kaiser Franz sei Resultat eines Seitensprungs oder sein Bruder Max (Johannes Nussbaum) wolle ihm Braut und Thron streitig machen. Während Adaptionen von Viscontis Film Noir „Ludwig II.“ über Schwarzenbergers Zweiteiler „Sisi“ bis zum Dokudrama „… und ich erzähle euch die Wahrheit“ Hauptfigur und Umfeld längst sachlicher skizziert haben als der Geschichtszuckerbäcker Marischka, gibt sich diese Kaiserin aber auch sonst wenig Mühe, zeitgemäß aufzutreten.
Dramaturgisch, ästhetisch, atmosphärisch garniert Netflix die gut verbriefte Erzählung vom Kampf der Hochadelsgemüter schließlich mit so viel Moderne, dass man sich spätestens beim vierminütigen Hochzeitswalzer einer Gruppe Ausdruckstänzer mit Irokesenschnitt fragt, was Eyssens Leute geraucht haben, um akkurate Kulissen und Kostüme stets mit habituellem Aberwitz wieder einzureißen. Sisis Vater, Oberbayer mit Backenbart, zum Beispiel berlinert wie überhaupt niemand alpin klingt in diesem Bergfilm. Auftretende Klassiker wie Liszt oder Strauß sind exaltierte Rockstars, sämtliche Frauen zudem eigensinniger als viele Geschlechtsgenossinnen nach 1968.
Und dass Franz-Josef I. ein republikanischer Fortschrittsfan mit fragiler Persönlichkeit war, der lieber in Eisenbahnen als Kriege investiert, ist fast noch unglaubwürdiger als die geschliffenen Sprichworte, mit denen Mama Sophie um sich wirft. „Es gibt keine Überraschungen, nur schlechte Vorbereitung“, sagt sie angesichts einer unangepassten Braut, könnte aber auch die Serie meinen. Als hätte Baz Luhrmann „Babylon Berlin“ 1854 reanimiert oder Wes Anderson Lady Di bei den „Buddenbrooks“, quillt sie schließlich über vor Überraschungen, ist allerdings perfekt auf Zwänge und Chancen eines Stoffes vorbereitet, der eigentlich zu abgedroschen ist, um wieder und wieder und wieder erzählt zu werden.
Das Alleinstellungsmerkmal von „Die Kaiserin“ besteht deshalb weder in der akkuraten Ausstattung noch ihrer kreativen Dekonstruktion. Origineller ist, wie wenig museal diese Vergangenheit aussieht, wie ungekünstelt ihre Modernisierung und wie viel Raum, Zeit, Stille drauf verwendet wird, den Charakteren Liebe, Leid und Leben einzuhauchen. „Warum haben Sie einen Vogel in der Hand?“, fragt Franz Elisabeth beim ersten Date. „Er hat nicht mehr aus dem Schloss gefunden“, antwortet sie und kriegt „das kenn ich…“ zur Antwort. So woke hätten zwei Aristokraten vor 168 Jahren zwar kaum geredet. Aber selten zuvor war ahistorisches Historytainment auf gediegenere Art unterhaltsam.
"Die Kaiserin" steht ab sofort bei Netflix zum Abruf bereit.