Nicht nur Netflix wird gerade von der Realität eingeholt und muss sich von hunderten Mitarbeitenden trennen sowie Programmstrategie anpassen, auch HBO Max (das vorerst gar nicht nach Deutschland kommt) kürzt seine globalen Ambitionen und stoppt zahlreiche Produktionen in Europa, wie „Variety“ am Montag zuerst berichtete. Das Publikum wird all das erst mit Verzögerung zu spüren bekommen, möglicherweise sogar erleichtert sein: Das Überangebot von Plattformen, Inhalten und ein fast bis zur Unauffindbarkeit guter Inhalte diversifizierter Serienmarkt haben den Sättigungsgrad eines 2. Weihnachtsfeiertags erreicht.
Ganze Strukturen wurden geschaffen, um den vermeintlich stetig wachsenden Appetit der Streamer zu bedienen. Wer nicht schon eine hatte, aber was auf sich hielt, gründete eine Produktionsfirma für HighEnd-Fiction. Oder aber für Dokumentationen, mindestens aber eine Abteilung dafür. Wenn etwas die Vielzahl der Streamingdienste toppen konnte, dann die Anzahl an Unternehmensgründungen um das goldene Streamingzeitalter mit Nachschub zu versorgen. Immer mehr Plattformen, immer größerer Appetit auf Programmstunden und dabei immer außergewöhnlich? Dieses Bild bekommt Risse.
Genau genommen gab es die schon länger, doch sie wurden ignoriert. Als Netflix in diesem Frühjahr die Prognosen für die Abo-Entwicklungen korrigieren musste, wurde das von manchen Medien als „Netflix-Schock“ bezeichnet, weil oft scheinbar zum ersten Mal auf die Kostenseite der globalen Expansion geschaut wurde. Viel zu lange galt in der heilen Streamingwelt - und als Synonym für den Trend eben besonders bei Netflix: Die Budgets sind unendlich, der Mut außergewöhnlich und alle Konventionen außer Kraft - weil alles immer weiter wächst.
Ohne Zahlen kann einfach alles ein Erfolg sein
Mangels Transparenz bei den Nutzungszahlen schien Streaming das Paradies zu sein. „Keine Fixierung mehr auf die Quote“, wurde auch von Kreativen gejubelt. Ohne veröffentlichte Zahlen kann einfach alles ein Erfolg sein, wenn das Image stimmt. Und das passte beim Streaming. Als Netflix im September 2014 nach Deutschland kam, war man nicht nur im Publikumsmarkt schon eine begehrte Marke - auch viele Journalistinnen und Journalisten schienen berauscht und blieben es einige Jahre. Endlich zeige mal jemand dem trägen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den unsäglichen Privatsendern, wie man es richtig macht.
Gut gebrieft, wie es sich für Medienprofis in US-Chefetagen gehört, war ein gehaltvolles Interview mit Reed Hastings damals schwieriger als einen Pudding an die Wand zu nageln. DWDL ist daran gescheitert - hat das geführte Gespräch voller Floskeln nie veröffentlicht, was für Fassungslosigkeit bei der engagierten deutschen PR-Agentur sorgte, aber letztlich egal war. Es gab Porträts und Interviews im Überfluss, denn niemand verkörperte die Lässigkeit des neuen Streamings so sehr wie der zweifelsohne charismatische Reed Hastings. Netflix, das war ein Gefühl. Kritik wurde in den ersten Jahren selten angebracht.
Die Erkenntnis, dass auch Streamingdienste durchaus Durchschnittliches oder gar Quatsch anbieten, brauchte etwas länger. Und dass es sich auf Dauer nicht rechnen kann, wenn die Zahl der Hits zu niedrig ist und der Wettbewerb intensiver wird - das dauerte noch einmal einige Jahre. Neulich dann die Negativ-News von Netflix, dann der überraschende Produktionsstop zahlreicher HBO Max-Produktionen und -Entwicklungen. Nicht nur der Pionier der Streamingdienste, auch die nächste Generation kann oder will nicht weiter Milliarden per Gießkanne über die Märkte hinweg investieren.
Die Zeiten der Gießkanne sind vorbei
Jahrelang haben sich Streamingdienste ein Stück weit selbst belogen, wenn sie sich für ihre manchmal gewagten lokalen Produktionen haben feiern lassen - und das soll nicht die kreativen Leistungen diskreditieren. Man könne so viel in die Nische bzw. einzelne Märkte investieren, weil die Programme auf dem eigenen Service ja auch international verwertbar wären. Das klang toll, machte sich gut in den Argumentationen auf Podien und in Interviews. Auch Kreative durften in Interviews schwärmen, dass Streamer X oder Y sich endlich traue, was niemand sonst sich getraut hätte. Und dann bekomme die Story auch noch ein globales Publikum!
Einziges Problem: Das war mehr Wunschdenken als Realität. Rein rechtlich und technisch können viele Serien bei Netflix, Prime Video oder Disney+ ein globales Publikum erreichen - und tun das auch insofern als dass es bei allen internationalen Streamingdiensten nun mal weitaus mehr nicht-deutsche Abonnentinnen und Abonnenten gibt als deutsche. Aber nur wenige Produktionen aus internationalen Märkten werden auch in ausreichender Zahl entdeckt und globale Hits. Man hatte nicht immer „Dark“ oder „Squid Game“ an der Hand - und dann funktioniert die Refinanzierung über die internationale Verwertung nicht ausreichend. Überraschung: Manche Streamer müssen Geld verdienen.
Ein neuer Realismus zieht ein im Streamingmarkt
Es ist der neue Realismus, der einzieht im Streamingmarkt und das zuerst bei denen, die es als Pioniere teuer lernen mussten, aber auch die Telekom ist inzwischen ausgestiegen aus dem Markt der fiktionalen Eigenproduktionen und Netflix als früherer Inbegriff für Highend-Serien setzt inzwischen immer häufiger auch auf das Genre Reality-TV - wie schon der deutsche Konkurrent RTL+. Die Kundinnen und Kunden scheinen es zu lieben. Die Makler-Reality „Selling Sunset“, um ein Beispiel zu nennen, wurde Kult und kostet dabei so wenig, dass es sich früher auch kleinere Kabelsender in den USA einfach so leisten konnten.
„Realität“ schlägt Fiktion
Die Kosten sind geringer, die Erfolgschancen höher und die Produktionszeitläufe wesentlich kürzer. Non-fiktionale Inhalte sind gerade extrem gefragt bei Streamingdiensten - gut für all die gegründeten Doku-Einheiten bei deutschen Produktionsfirmen und den Neustart von Discovery+. Für das serienaffine Publikum bedeutet diese Entwicklung natürlich nicht, dass es keine spektakulären fiktionalen Stoffe zu sehen geben wird. Aber selbst internationale Streamer bitten bei Produzenten in Deutschland inzwischen ausdrücklich um Krimi-Stoffe - weil das die Deutschen nun mal am liebsten sehen. Und schon schrumpft der Unterschied zum Angebot im linearen Fernsehen.
Jüngere Streamingdienste, die sich in Deutschland etablieren bzw. differenzieren wollen, greifen allerdings vorerst weiter tief in die Tasche, um mit ihren ersten lokalen Produktionen zu beeindrucken: Etwa Disney+ mit seinen ersten deutschen Eigenproduktionen oder auch Paramount+, das im Dezember nach Deutschland inklusive lokaler Produktionen startet. Kreative schwärmen gerade, dass dort (wie auch bei ARD und ZDF mit ihren Mediatheken-Offensiven) die Bereitschaft für neue Stoffe am größten sei. Doch werden sie dauerhaft so viel in deutsche Kreativität investieren wie es Netflix und Amazon tun?
Nach unbeschwerten Jahren erleben wir die unvermeidliche Professionalisierung von Streaming mit nicht unbedingt weniger aber deutlich fokussierteren Investitionen bei vielen Anbietern. Lange unkritisch umjubelte Global Player kehren zurück auf das von deutschen Marktteilnehmern oft gewünschte „leveled playing field“ (ausgeglichenene Spielfeld) einer gewissen Wirtschaftlichkeit. Aus Wettbewerbssicht werden das spannende Jahre. Aus Sicht von Serienfans jedoch härtere Zeiten für wirklich außergewöhnliche Stoffe, weil die Refinanzierung stärker ins Blickfeld rückt und damit mehr Mainstream kommen wird.
Für das Publikum nicht morgen, aber übermorgen.
Für die Kreativen schon heute.