Was bei ARD und ZDF Millionen anlockt, kann auch bei RTL nicht verkehrt sein. Auf Grundlage dieser Haltung müssen Ideen wie "Ich setz auf dich", ein stark an "Wetten, dass..?" erinnerndes kommendes RTL-Showformat entstanden sein, oder aber "RTL Direkt", das 22:15-Uhr-Nachrichtenjournal, präsentiert wahlweise von Ex-"Tagesschau"-Sprecher Jan Hofer oder Ex-"Tagesthemen"-Moderatorin Pinar Atalay. Wer die Quotenhitlisten von ARD und ZDF weiter durchforstet, stößt schnell auf die starken 90 Minuten langen Krimis, denen RTL in Form von "Balko", "Cobra 11", "Miss Merkel" oder dem "Dünenthriller" nacheifert – und auf Klassiker wie "Das Traumschiff" und "In aller Freundschaft". Wie würde wohl eine Kombi aus beidem Letzteren aussehen? Willkommen bei "Der Schiffsarzt"", willkommen auf "Mein Schiff 3" von Tui Cruises.
"Die Mischung aus Medical, Crime und Eskapismus macht dieses Format so besonders", sagt Markus Böhlke, RTL-Redakteur für Fiction über die sechsteilige Serie "Der Schiffsarzt", die für RTL und RTL+ entstanden ist. Die von UFA Fiction hergestellte und von Oliver Liliensiek in Szene gesetzte Serie erzählt die Geschichte eines Arztes, der sich – nicht ohne Grund, wie sich schnell herausstellt -, auf die freie Stelle des Schiffsarztes an Bord des Luxusliners von Kapitänin Henriette Mosbach (Anna Puck) bewirbt. Fun Fact: Moritz Otto, der den teils wortkargen, kühlen, fokussierten Arzt Eric Leonhard darstellt, spielte in Vergangenheit sowohl Rollen auf dem "Traumschiff" als auch in "In aller Freundschaft" und dürfte zudem nicht zuletzt durch sein Auftreten in fünf "Gipfelstürmer – Das Berginternat"-Folgen bekannt sein.
In jeder Folge der UFA-Serie muss sich der Mediziner um eine (gerne etwas konstruierte) Geschichte eines Passagiers oder einer Passagierin kümmern. Und da ist alles mit dabei: Die Tänzerin, die seit Jahren verheimlicht, dass sie eigentlich nahezu taub ist und nur von den Lippen abliest, sich jetzt aber wegen fortschreitendem Knochenfraß in ihrem Ohr einer OP zu unterziehen hat, das Baby, dessen Nasenbluten sich als Leukämie-Symptom entpuppt oder eine traumatisierte 65-Jährige, die in Folge des Unfalltodes ihres Mannes ihre komplette Familie verdrängt hat. Die medizinischen Geschichten, die in ähnlicher Form ihre Primetimetauglichkeit Woche für Woche in "In aller Freundschaft" beweisen, nehmen aber nur etwa die Hälfte der Sendezeit ein.
Ebenfalls erzählt wird ein durchgehender Handlungsbogen, der zum Vorschein bringt, warum Dr. Leonhard überhaupt an Bord gegangen ist. Einige Monate zuvor nämlich verschwand seine hochschwangere Ehefrau Sarah - bis heute ist sie nicht zurück. Nicht nur das, er selbst geriet ins Fadenkreuz der Polizei. In seiner Not beauftragte Leonhard einen Privatermittler, der in der Tat erfolgreich war. Ein Foto zeigt Sarah auf eben jenem Kreuzfahrtschiff. Die Suche nach seiner Frau, die von Folge zu Folge mehr Fragen aufwirft, führt ihn dann schließlich auch auf die kanarischen Inseln, die in bester "Traumschiff"-Manier von den Kameras in Szene gesetzt werden und sicherlich bei manchem Zuschauenden sofort für Fernweh sorgen.
Und weil das noch nicht genug Stoff ist, haben die Autoren Brigitte Müller und Simon X. Rost noch zahlreiche kleinere Storys diverser Nebenfiguren eingewoben. Da wäre etwa die von Ex-"Alles was zählt"-Darstellerin Eva Löser gespielte Emma, die sich zur Vertrauensperson von Eric entwickelt und deren Charakter großes Verantwortungsbewusstsein und Scharfsinn vereint. Der von Ex-"GZSZ"-Darsteller Philipp Christopher dargestellte Pablo ist Sicherheitschef an Bord; ihm kommt der neue Schiffsarzt auf Anhieb seltsam vor, weshalb sich der Ex-Geheimdienstler sofort als Gegenspieler des Schiffsarztes entpuppt. Ein großes Fragezeichen steht hinter Barmann Joshua Frédéric Brossier, ("All You Need"), der auf dem Foto mit Sarah zu sehen ist, ein Auge auf die Kapitänin geworfen hat und daher sehr kritisch das Zusammenspiel zwischen ihr und dem neuen Doktor beäugt. Und dann wäre da noch die Kapitänin selbst, die – so viel Realitätsfremde musste sein – an Bord für allerlei Dinge Zeit hat, inklusive ihren privaten Problemen, denn sie ist geschieden von ihrem Mann und hat somit eine Beziehung hinter sich, die sie für den Traum auf dem Kreuzfahrtschiff aufgegeben hat.
Eben nicht Fisch und nicht Fleisch
"Die Geschichte dieses Mannes, der seine eigene Agenda verfolgt und dabei zunächst mutterseelenalleine ist, inmitten einer Gemeinschaft, die unter Deck wie ein kleines Dorf organisiert ist, hat mich als Autorin besonders fasziniert", sagt Headautorin Brigitte Müller, die zugibt, dass die Zusammensetzung der vielen Story-Elemente nicht einfach gewesen sei und nennt als eines der Vorbilder die US-Serie "The Mentalist", in der die Hauptfigur neben dem Mordfall der Woche auch über mehrere Staffeln hinweg den Mörder seiner Familie jagen muss. Beim "Schiffsarzt" verhält sich das ungleich anders. Darin krachen Traumstrand-Atmosphäre, Happy-End-Medical-Fälle und der düster angehauchte Crime-Fall rund um Sarahs Verschwinden aufeinander. Wer das Beste aus zwei oder drei Welten vereinen möchte, der läuft eben Gefahr, dass er a) auf zu vielen Hochzeiten tanzt und somit nichts ganzes und nichts halbes anbietet oder b) nicht stringent genug erzählt. In Teilen trifft das auch auf diese UFA-Fiction-Serie zu, der es gut getan hätte, einen klareren Fokus zu setzen. Mehr Medical und somit weniger Crime oder aber mehr Crime und weniger Fall der Woche. Während die Crime-Story wirklich Potential hat und es sich selbst zur Mitte der Staffel noch nicht herauskristallisiert hat, wohin die Geschichte führen könnte, folgen die Patientengeschichten oft einem vorhersehbarem Handlungsfaden.
So bleibt "Der Schiffsarzt" eine von einem starken Moritz Otto getragene Serie, die nicht so recht weiß, was sie will. Eine Serie mit hohem Schauwert, die besticht durch starke Luftaufnahmen, von denen sich selbst der ZDF-Klassiker noch eine kleine Scheibe abschneiden kann. Eine Serie mit teils abgedroschenen Patientenschicksalen. Und eine Serie, die die Frage aufwirft, ob der vollzogene Spagat nicht bald ein Fall für den "Schiffsarzt" wird.
"Der Schiffsarzt", abrufbar auf RTL+. Später im Jahr laufen die sechs Folgen linear bei RTL.