Was wäre, wenn? Ja, was wäre eigentlich, wenn Frauen Männer wären. Wenn sie Schwänze hätten statt Schamlippen und damit vielleicht nicht gleich die ganze Ungerechtigkeit tausender Jahre Patriarchat beseitigt, aber vorerst wenigstens das körperliche Leid hinterm doppelten X-Chromosom von Regelschmerz über Geburtswehen bis Wechseljahre? Was also wäre, wenn Charlie keine Vagina, sondern einen Penis besäße? „Dann könntest du im Stehen pinkeln“, antwortet die beste Freundin Alina auf Charlies ihrer und lacht. Noch.
Die Titelfigur der Instant-Dramaserie „Becoming Charlie“, das merkt Alina nach ein paar der insgesamt kaum 100 Minuten Sendezeit, ist sich nämlich unsicher, welches primäre Geschlechtsmerkmal ihr lieber wäre. Schon der Vorname unterwandert ja die standesamtlich geforderte Abgrenzung zu den richtigen, den Bio-Jungs. Und auch sonst ist Charlie eher burschikos als feminin. Ihr Schlabberlook, der Cowboygang, das kurze Strubbelhaar – habituell passt alles am Twentysomething im Offenbacher Plattenbauviertel zum Faible für die Protzkarren der Block-Babos.
Charlie prollt, Charlie flucht, Charlie rangelt. Charlie hat zwar kindliche Gesichtszüge, aber raue Manieren. Charlie schreibt Gangstaraps, fährt für Lieferdienste Lebensmittel durch Häuserschluchten, kommt so natürlich nie aus der Schuldenfalle eines alleinerziehenden Elternteils und steht auch noch bei Tante Fabia in der Kreide. Alles Alltagssorgen eines reichen Landes mit wachsendem Armutssockel, die das Gefühlschaos vervielfachen. Denn Charlie, so wirkt es ab heute in der ZDF-Mediathek (24. Mai, 20.15 Uhr: Neo), will Charlotte im Ausweis beerdigen. Wenn es denn so einfach wäre…
Denn in der Realfiktion von Lion H. Lau ist alles noch komplizierter als ohnehin – und somit das Beste, was uns im Steinbruch sexueller Identitätssuche passieren konnte. In „Becoming Charlie“ erzählt die nonbinäre Person schließlich ein Stück weit ihr eigenes Leben jenseits von Mann oder Frau in der Lausitz nach. Und was die explizit feministische Regisseurin Kerstin Polte („WIR“) mit der Newcomerin Greta Benkelmann sechs hochpräzise Folgen lang daraus macht, stellt einiges auf den Kopf, was das LGBTQ+-Spektrum am Bildschirm prägt.
Ob nun „Queer as Folk“ oder „The L-Word“, „Transparent“ oder „Will and Grace“: Seit ein schwuler Anwalt in „Philadelphia“ an Aids erkrankte, sind Abweichungen vom heteronormativen Mainstream Oberschichtenphänomene, also außerhalb der Frauenknastmauern von „Orange is the New Black“ allenfalls Ausnahmen vom Regelfall. Neue Hauptfiguren subkultureller Fiktionen von „Please Like Me“ bis „All you need“ mögen zwar prekär beschäftig sein, aber immerhin kultiviert, also gut situiert. Dass Lion H. Laus Titelheld:in im 9. Stock eines sozialen Brennpunktes am sozialen Geschlecht verzweifelt, ist da schon mal bemerkenswert.
Lea Drinda ist schlicht sensationell
Noch auffälliger ist allerdings, wie ein vornehmlich weibliches Team Lions Drehbuch in lebensgroße Bilder gießt. Gut ein Jahr nach dem Durchbruch als Junkie im Prime-Remake der „Kinder vom Bahnhof Zoo“ sticht dabei besonders Lea Drinda hervor. Wie die 21-Jährige gegen ihre pilchertaugliche Kulleraugenoptik anspielt, ohne sie zu negieren ist dabei schlicht sensationell. Denn wie ihre Babsi den Berliner Heroinabgrund der späten 1970er, bringt ihre Charlie den Offenbacher Hartz-4-Abgrund der frühen 2020er mit einer Dringlichkeit von fast schon einschüchternder Ambivalenz zum Ausdruck.
Mal angriffslustig, mal lebensmüde, aber meist auf den Punkt einer zerrissenen Selbstreflexion, ringt die vierfachdiskriminierte Transgender-Person um Halt(ung). Als lesbische Frau kämpft sie um die Beziehung zur schwangeren Alina (Aiken-Stretje Andresen). Als arme Frau kämpft sie im Dunkel einer stromlosen Etagenwohnung gegen die Realitätsverweigerung ihrer kaufsüchtigen Mutter (Bärbel Schwarz). Als süße Frau kämpft sie gegen Vorurteile einer männlichen Umgebung (Danilo Kamperidis). Und als Frau, die weder das noch ein Mann sein will, kämpft sie mithilfe der Nachbarin Ronja (Sira Anna Faal) gegen sich selber – was Kerstin Polte in der eindrücklichsten Szene dieser tollen Serie zum Ausdruck bringt.
Im Bad von Charlies Tante Fabia (fabelhaft grantig: Katja Bürkle) spielt Charlie mit Schminke Geschlechterstereotypen durch, und Lotta Kilians Kamera hält so ewig drauf, bis alle Persönlichkeiten in Körper, Geist und Seele zur retrofuturistischen Musik von Pelle Paar und Alice Dee am Spiegel kondensieren. Keine fünf Minuten später dann kippt dieser visuelle Ritt ins Durcheinander einer lebenden Normabweichung sogar buchstäblich, als Charlie der liebevollen, aber verständnislosen Mutter „ich bin keine Frau“ zuflüstert und im Splittscreen rechts kopfüber steht.
Statt lauter Wut oft stille Verzweiflung, statt aggressiver Rebellion eher innere Immigration: „Becoming Charlie“, übersetzbar mit „Charlie werden“, enthält sich vieler Klischees, die filmische Sichtweisen auf alternative Sexualitäten oft so didaktisch machen und damit anstrengend. Hier strengt allenfalls der Wust queerer Lebensentwürfe an, die Lion H. Lau auf engstem Raum einer Betonwüste verdichtet. Tante, Kumpel, Chef, Nachbarn – alle sexuell außergewöhnlich. Weil die Figuren dabei nicht randgruppengerecht überzeichnet sind, sondern im Gegenteil: auf dezente Art gewöhnlich, klärt die Serie jedoch mehr auf als zu unterwandern. Und erschafft so etwas Beachtliches: Unterhaltung mit Haltung.
ZDFneo zeigt alle Folgen am Dienstag, den 24. Mai ab 20:15 Uhr. In der ZDF Mediathek ist die Serie schon jetzt verfügbar.