An den Süßigkeiten lag es nie: Kaum waren die letzten der seit August in den Regalen stehenden Schoko-Weihnachtsmännern mit Rabatt verkauft, folgten ihnen die grinsenden Schoko-Osterhasen. Doch spätestens seit das Christkind medial vom Weihnachtsmann, dem Coca Cola-Truck und Hollywood-Feelgood-Kino verdrängt wurde, war sie dahin die Feiertags-Equality: Das Osterfest beschert uns zwar jährlich die Diskussion was man darf oder nicht an stillen Feiertagen, hat medial aber ein Problem: Kreuzigung kommt weniger gut an als Weihnachten mit Geschenke-Garantie. Und so gibt es Weihnachtsfilme ohne Ende, aber was hat Ostern schon außer Mel Gibson?
Szenenwechsel. Der Bösewicht liegt auf einem Dach weit über dem Dunkeln der Stadt. Die Atmosphäre gespenstisch, die Lichtstimmung dramatisch. Die Musik dazu? Bedrohlich. Eine Nahaufnahme! Was nach Gotham City klingt, war nur Essen. Der Joker nur Mark Keller als Judas und der Gesangestext von Tokio Hotel: „Durch den Monsun“ Dank seines Verrats landet Jesus wenig später in einem Polizeitransporter vor der Zeche Zollverein - hinter Gittern zusammen mit Jo Gerner und Walter. Das ist mein RTL! Herzlich willkommen bei „Die Passion“, dem live übertragenen Wahnsinn, der sich nur schwer in Worte fassen lässt.
Die Feststellung, dass das deutsche Fernsehen so etwas noch nie gesehen hat, dürfte jedenfalls noch unumstritten sein. Es war die ganz große Bühne und eine Stadt in diversen Winkeln bespielt - eingefangen in spektakulären Bildern, wenn auch mit etwas träger Regie. Bei der weiteren Beurteilung des großen TV-Events scheiden sich dann ganz offen die Geister:„Ja, wir trauen uns was“, sagte Thomas Gottschalk selbst nach der ersten Werbepause am Mittwochabend. Es wirkte wie eine Erwiderung auf die ersten Reaktionen im Netz, wo man sich von Beginn an erwartbar abarbeitete an #diepassion, wahlweise am Thema oder der Inszenierung. Auch Jan Böhmermann und Mats Hummels twitterten mit. #diepassion war Hashtag Nr.1.
Nach zwei Stunden und 15 Minuten bleiben eine Enttäuschung, viele Fragen und ein frommer Wunsch übrig. Dass man die Passionsgeschichte um ihre bildstärksten Momente beraubte, weil zwar zwei Stunden lang begleitet von RTL-Interviewerin Annett Möller ein leuchtendes Kreuz durch die Stadt geschleppt wurde, aber man sich dann jede Visualisierung der Kreuzigung von Alexander Klaws sparte, fällt definitiv in die Kategorie Produktenttäuschung. Und zu Beginn fehlte die Nachvollziehbarkeit von Judas’ Motiv. Spannung? Die gab es kurz als Thomas Gottschalk kurz vor Schluss der Inszenierung panisch rief „Kein Text!“, doch dann lief der Teleprompter wieder und der Wiederauferstehung stand nichts mehr im Wege.
Als Erzähler des Abends war Gottschalk der frommste von allen. Beschnitten um seine Haarpracht und die Möglichkeit zum freien Sprechen hielt er sich spürbar angestrengt an den Teleprompter, was bei einem länglichen Monolog zum Einstieg in den Abend nicht gerade half, um zügig Tempo reinzubringen. „Ich verspreche ihnen: Niemand ist hier mit gefalteten Händen unterwegs“, las Gottschalk zu Beginn ab. Es solle weder frommes Märchen noch Gottesdienst werden - und da behielt er recht. An Tempo und Abwechslung gewann „Die Passion“ im Laufe des Abends, auch die Übergaben wurden nahtloser ohne Momente der Stille. Und das Musikbett hatte man nach anfänglichen Problemen auch im Griff.
In einem Mix aus Live-Momenten und vorausgezeichneten Szenen erzählte RTL die Passionsgeschichte im Stadtgebiet von Essen verteilt, immer ergänzt durch vom Ensemble neu interpretierte deutschsprachige Popmusik von u.a. Silbermond, Revolverheld, Udo Lindenberg, Tokio Hotel, Ich & Ich, Unheilig und Andreas Gabalier aber auch Schwurbler Xavier Naidoo, der so mehr oder weniger sein überraschendes RTL-Comeback feierte. Die Macher wollten vorher nicht von einem Musical sprechen, doch das trifft es in weiten Teilen am Besten - wenn man nicht eingeschaltet hat.
Die vielfältigen Performances im offenen Raum sorgten für den großen Event-Charakter, mehr noch als die Bilder vom Essener Burgplatz mit seiner enorm großen Bühne, die weitgehend der Chor und Ella Endlich als Maria mit mehreren starken Performances für sich hatten, bevor dort am Ende Henning Baum als Pontius Pilatus bewies, dass er nicht singen kann und Martin Semmelrogge als Barabbas, dass er nicht schauspielern kann. Sein Gehampel als Ausdruck der Freude, dass nicht er sondern Jesus bestraft wird, führte das Dilemma der Inszenierung vor Augen: Mal war es sehr stil- und stimmungsvoll inszeniert, mal aber etwas zu klamaukig für die Tragweite dessen, was man hier pompös inszenierte.
Gastauftritte hatten auch u.a. Nicolas Puschmann, Samuel Koch, Stefan Mross, Anna-Carina Woitschack, Mareile Höppner, Prince Damien, Ingolf Lück, Nelson Müller und Reiner Calmund („Wir wissen nicht ob er beten kann, aber wir wissen, dass er fasten kann“, O-Ton Gottschalk). Gil Ofarim war übrigens in den lange vorproduzierten Einspielern unter Jesus’ Jüngern zu sehen - am Ende jedoch nicht live auf der Bühne in Essen. Was man mit der Auswahl des Casts bewusst ins Hier und Heute des RTL-Publikums transportierte, passte nicht immer zur Wahl von Original-Bibelzitaten. Da wäre mehr Mut zur freien Interpretation wünschenswert gewesen, um nicht unfreiwillig komische Szenen mit gesteltzter Sprache zu kreieren, die für besonders viel Häme und Spott in den sozialen Medien sorgten.
Ebenso wie die persönlichen Geschichten der Menschen, die das Kreuz (umsonst) zum Burgplatz trugen. Es waren Momente an denen man aus der musikalischen Inszenierung ausbrach und sinnstiftend werden wollte. Manche der persönlichen Geschichten über Glauben wirkten ungewohnt, sogar merkwürdig - für sich und erst recht in der RTL-Primetime. Dazu kommt: Warum jemand glaubt, ist für viele schon Grund zu Spott, die sich nicht einmal vorstellen können, überhaupt zu glauben. Angriffsfläche bot „Die Passion“ denen natürlich reichlich, schließlich basiert das ganze Spektakel auf dem Glauben, dass sich all das einmal so zugetragen hat.
Nimmt man es aber nicht ganz so ernst und betrachtet den Fernsehabend in Essen als Gesamtwerk, dann bleibt trotz all den Fragezeichen und Schwächen der fromme Wunsch: Mehr Passion wagen! In wechselnden Besetzungen in anderen Städten mit den Learnings aus der Premiere in Essen, dürfte man das gerne wiederholen. Kritikerinnen und Kritiker des konformen Fernsehprogramms mit seiner Erwartbarkeit wünschen sich doch regelmäßig Experimente - das hier war ganz sicher eins und nicht gerade klein. Nur live ist live, hat sich wieder mal gezeigt. Dabei entwickelt sich fast ein leichtes Lagerfeuer-Gefühl, wie man es sonst bei ESC oder „Wetten, dass..?“ kennt - und auch dort regt man sich gerne auf.
Alle werden sich drauf stürzen, von den TV-Kritikerinnen und -kritikern über „TV total“ bis zu Podcasts (Grüße gehen raus an „Baywatch Berlin“). Die sehr aktive Social Media-Begleitung parallel zur Ausstrahlung war ja schon ein Vorgeschmack darauf, dass „Die Passion“ eins auf jeden Fall nicht war: Egal. Und in einer Fernsehlandschaft in der so viel belanglose Füllmasse produziert wird, die so furchtbar egal geworden ist, möchte ich lieber mehr Wahnsinn wie diesen sehen als Mehr vom ewig gleichen. Für mehr Wahnsinn und Mut zum Experiment in einer Fernsehlandschaft, in der sich 20 Jahre später Alexander Klaws mit überzeugender Performance besser gehalten hat als „Deutschland sucht den Superstar“.