Sinn und Unsinn internationaler Serienadaptionen werden auf Branchenkongressen gern leidenschaftlich diskutiert. Dabei ist die Faktenlage klar: Wenn mittlerweile selbst Netflix – mit dem Argument der globalen Verfügbarkeit lange Zeit Gegner von Format-Remakes – eine koreanische "Haus des Geldes"-Version mit dem "Squid Games"-Hauptdarsteller dreht, dann dominiert Industrielogik wohl endgültig über Originalität. Der Track Record einer vorbestehenden Marke und die Abkürzung der Entwicklungszeit sind eben nicht zu verachten.

Und selbstverständlich kann auch auf diese Weise eine hervorragende, eigenständig sehenswerte Serie entstehen, wie etwa "Der Pass", das fünfte internationale Remake des Endemol-Shine-Formathits "The Bridge", unter Beweis stellt. Extra schwierig wird das, wenn sogar schon ein erfolgreiches, das Original überstrahlendes US-Remake um die Welt gezogen ist. Das israelische Original "Kvodo" nach dessen amerikanischer Version "Your Honor" zu adaptieren, ist ungefähr so, als würde man sich an eine deutsche Variante von "Hatufim" wagen – nach "Homeland".

Die Latte liegt also ziemlich hoch für die deutsch-österreichischen Macher von "Euer Ehren", ob sie es nun wollen oder nicht. Erst Yoram Hattab als Richter Micha Alkoby im israelischen Be'er Scheva, dann Bryan Cranston als Richter Michael Desiato in New Orleans haben zwei Interpretationen einer ikonenhaften Figur geschaffen: der hoch angesehene Vertreter der Justiz mit weißer Weste und Aussicht auf ein politisches Amt, der buchstäblich über Nacht zum kriminellen Lügner wird, um seinen Sohn zu schützen, nachdem dieser einen schweren Unfall mit Fahrerflucht verschuldet hat und um sein Leben fürchten müsste, käme die Wahrheit ans Licht – denn das Unfallopfer ist der Sohn eines Mafiapaten, den der Richter ins Gefängnis gesteckt hat.

Die dramaturgische Stärke des Formats beruht auf der archaischen Grundkonstellation; die abgründige Faszination am unaufhaltsamen Fall muss der Hauptdarsteller tragen. Und so findet "Euer Ehren" seine Raison d'Être zuvorderst in Sebastian Koch. Wie er die Rolle des Michael Jacobi, Vorsitzender Richter am OLG Innsbruck, anlegt und fortentwickelt, ist eine Sternstunde der mitreißenden Figurenführung. Es sind im Wesentlichen seine Blicke, die gepaart mit verhaltenem Spiel den wachsenden Grad der Verzweiflung anzeigen. Vor unseren Augen verliert Kochs Jacobi mehr und mehr seiner anfänglich fast überbordenden Fassung. Äußerlich unterstützt Regisseur David Nawrath den Verfallsprozess, indem er den zunächst wie aus dem Ei gepellten Richter nach und nach ein Stück derangierter zeigt.

Euer Ehren © ARD Degeto/ORF/SquareOne/Mona Film/T. v.d. Borne Wie eine Naturgewalt: Tobias Moretti spielt den Tiroler Fleischfabrikanten und Drogenhändler Uli Lindner

Nawrath, der die Drehbücher zusammen mit David Marian und unter dramaturgsicher Mitarbeit von Koch geschrieben hat, liefert das zweite große Eigenmerkmal dieser Adaption mit der Inszenierung von Schauplatz und Stimmung. Schnee und Kälte kannte das Format bisher noch nicht. Im winterlichen Tirol wirken die Berglandschaften hier grau, düster und bedrohlich. Sie kesseln die Welt des Richters Jacobi förmlich immer enger ein, je weiter sich dieser von Gesetz und Moral entfernt. Zur lokalen Verortung trägt angenehm bei, dass mehrere Figuren den Tiroler Dialekt durchklingen lassen dürfen, was für deutsche Produktionen nicht unbedingt selbstverständlich ist. Allen voran ist Tobias Moretti als Fleischfabrikant Uli Lindner zu nennen, der wie eine Naturgewalt daherkommt und die kumpelhafte Attitüde ebenso draufhat wie die eiskalte Gefährlichkeit. Lindner agiert mit seiner Großunternehmerfassade und dem Drogenhandel dahinter als Erzrivale des serbischen Mafiaclans, dessen Anführer im Gefängnis sitzt und dessen Sohn von Jacobis Sohn zu Beginn angefahren wird.

Mitunter nur auf durchschnittlichem Krimi-Klischee-Niveau bewegt sich die Darstellung ebenjener serbischen Familie Sailovic. Ohne die gleiche erzählerische Tiefe wie bei den Jacobis und den Lindners fehlt es hier etwas am emotionalen Gegengewicht. Dabei spürt man, dass Nawrath sich bemüht, die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen und möglichst jeder Figur Grauschattierungen zu verpassen. Diese Funktion ist auf der Serben-Seite insbesondere der von Paula Beer gespielten Clan-Erbin Arija zugedacht, die ihre legale Karriere als Unternehmensberaterin in London abbricht, um die Familiengeschäfte in der österreichischen Heimat zu übernehmen. Woher ihre Radikalität und Härte rühren, bleibt jedoch psychologisch unmotiviert. Ein kleiner Minuspunkt für einen ansonsten überzeugenden Thriller, dem es durchaus guttut, dass er mit seinen sechs Folgen schneller erzählt ist als die Vorlagen "Your Honor" mit zehn oder "Kvodo" mit zwölf Episoden.

"Euer Ehren", in der ARD-Mediathek. Linear laufen die Folgen 1 bis 4 am 9. April ab 20:15 Uhr, die Folgen 5 und 6 am 10. April ab 21:45 Uhr im Ersten.