Es ist schwer zu sagen, was die Provinz provinziell macht, ob es also das Land als solches ist oder doch dessen Gebräuche. Ein Schützenfest zum Beispiel gibt es auch in der weltgewandten Messestadt Hannover, während das Millionendorf München Herbst für Herbst zum Rummelplatz atavistischer Gepflogenheiten aus vorindustrieller Zeit degeneriert und habituell ohnehin eher an Neu Töplitz als New York erinnert. Rustikale Riten sind also auch im Urbanen zu verbreitet, um sie rein ländlich zu definieren. Aber Bierkistenquerstapelwettbewerbe? Die gibt’s vermutlich doch nur in der Eifel.
Genauer: Hengasch. Einerseits ein beliebter Tatort der fiktionalen ARD-Serie „Mord mit Aussicht“, die den Kanon bürgerlicher TV-Märchen seit 2008 um Fachwerkhäuser mit Tötungsraten weit oberhalb der Bronx vor 50 Jahren bereichern durfte. Andererseits ein Provinznest der Kategorie Schmunzelkrimi, das 42 Folgen lang Vorurteile übers vermeintliche Landleben aneinanderreihte, als wäre die ganze Eifel ein Freiluftbauerntheater. Sieben Jahre nach dem Staffelfinale kehrt das Erste nun in den Kreis Liebernich zurück und macht die Gemeinde Hengasch zum Ort einer Fortsetzung mit ausgetauschtem Personal.
Anstelle von Caroline Peters als strafversetzte Kommissarin Sophie Haas, die im spielfilmlangen Staffelfinale anno 2015 endlich zurück nach Köln durfte, klärt ihre Kollegin Marie Gabler (Katharina Wackernagel) nun Kapitalverbrechen am Kuhweiderand auf und wird dabei mehr schlecht als recht von den depperten Dorfpolizisten Heino Fuß (Sebastian Schwarz) und Jennifer Dickel (Eva Bühnen) unterstützt, die das bauernschlaue Cop-Duo Meike Droste und Bjarne Mädel als Bärbel Schmied und Dietmar Schäfer ersetzen.
Alles neu in der Eifel? Na ja… Ein paar tragende Nebenfiguren von früher ja sind immer noch dabei. Petra Kleinerts Tratschtante Heike zum Beispiel oder der sehr alte sehr weiße Mansplainer Zielonka (Michael Hanemann) im Umfeld wiederkehrender Klischees und Stereotypen. Wenn die – ebenfalls unfreiwillig – abkommandierte Großstadtermittlerin Marie Gabler heute Abend in Highheels Hengascher Feldwege betritt, plöddert dazu entsprechend jener Neowestern-Sound über Feld, Wald und Wiesen, der öffentlich-rechtliche Zuschauer fröhlich stimmen soll, aber oft bloß zum Heulen ist.
Auch 2022 bedient sich „Mord mit Aussicht“ nämlich humoristischer Prinzipien, bei denen zwei Menschen, die aneinander vorbei wollen, erstmal fast ineinanderlaufen, drollige Roller fahren und Dauerwelle tragen. Bei der Pointen-Fahndung wurde Regisseur Markus Sehr nach Drehbüchern von Johannes Rotter offenbar in der Schwarzweißära fündig, wenn nachts im Freien das Käuzchen ruft (huhu), Kinder Otmar heißen (tihi) und Feuerwehrleute Brandt (tätähh).
Schon beim Odd-Triple Haas/Schmied/Schäfer waren solche Punshlines im Laufe der Serienjahre eher gut gemeint als gut gemacht, konnten sich aber wenigstens aufs komödiantische Timing ihrer fabelhaften Darsteller verlassen und dem Stadt-Land-Graben damit gelegentlich fast sozialkritische Wucht verleihen. Dummerweise ist Katharina Wackernagel bei aller Wertschätzung nicht Caroline Peters, sondern eher eine Art Maria Schell der Historienmehrteilerepoche, die geschichtsklitternde Realfiktionen von „Luftbrücke“ bis „Aenne Burda“ in Tränen des Trotzes ertränkt und damit zu den Lieblingsschauspielerinnen der Generation Wirtschaftswunder wurde.
Ihre Vorgängerin zählt dagegen zu den Lieblingsschauspielerinnen der Generation X bis Y. Schon ein bisschen cooler. Kompliziertes Erbe also – das ihre Nachfolgerin zunächst durchaus würdevoll antritt. Während Marie Gabler Sophie Haas‘ kriminalistischen Nachlass regelt, vermeidet sie schließlich Peters‘ überdrehte Comedy-Mimik. „Ich verstehe meine Figur so, dass Marie all die Klischees eher staunend beobachtet, als zu kommentieren“, erklärt Wackernagel ihre Zurückhaltung im Zoom-Interview, „aber dennoch empathisch genug ist, um ein wenig in die Köpfe der Landbevölkerung hineinzublicken, anstatt von oben herab“.
Wenn sie im ersten Fall mit einem Mörder ohne Leiche zu tun hat und im dritten mit einer Leiche ohne Mörder, wenn die Spuren dabei vom gut besuchten Ortsbordell über Kuchenbackwettbewerbe ins Getreidesilo führen, wo sämtliche Landeier halt Landeierzeug machen, zu dem das Banjo sachte klimpert, kann Wackernagel also gar nicht so viel dafür, dass Autor Johannes Rotter am laufenden Band Pferde- und Fax-Witze reißen, die nicht lustiger werden, weil er sie andauernd wiederholen lässt.
Nur: Gablers staunende Distanz weicht eben auch darstellerisch bald jenem Feuerwerk glaubschäugiger Sketchup-Scherze, die ihren herzlich missratenen „Urbino-Krimi“ 2016 nach zwei Folgen ins dunkle Loch gescheiterten ARD-Komödien riss. So schlimm ist „Mord mit Aussicht“ zwar selten, keine Sorge. Aber wenn Wackernagels Polizistin den Vorwurf einer frisch Überführten, „ihr Hengascher seid alle gleich“, mit der unsicheren Feststellung kontert, keine Hengascherin zu sein und dafür „aber auf dem besten Weg…“ erntet, lässt das Schlimmes befürchten. Für Marie Gabler, „Mord mit Aussicht“ – und dessen Publikum.
"Mord mit Aussicht", dienstags um 20:15 Uhr im Ersten